Islamistenchef akzeptiert Regierungsablöse
Von Danny Leder
Das Bild hat symbolische Bedeutung: Der legendäre Gründer und Führer der tunesischen Islamisten-Partei Nahda, Rached Ghannouchi, unterzeichnete am vergangenen Samstag, in feierlichem Rahmen, eine Erklärung, wonach die von seiner Partei geführte Regierung bis Ende Oktober zurücktreten werde. An deren Stelle soll eine Regierung parteiloser Fachleute treten, die ihrerseits den Weg für Neuwahlen ebnen wird.
Die Umsetzung dieses Fahrplans ist noch an mehrere, heikle Vorbedingungen gebunden, darunter die rasche Einigung der tunesischen Parteien auf eine neue Verfassung, die seit zwei Jahren ansteht. Außerdem gibt es in der Nahda (bedeutet: Renaissance), die bei den ersten freien Wahlen im Oktober 2011 eine – relative – Mandatsmehrheit erlangte, heftige Widerstände gegen eine Demission der Regierung. In Tunis mangelt es auch nicht an skeptischen Kommentaren, so sehr scheint die politische und wirtschaftliche Situation des Landes, das den arabischen Frühling durch die Vertreibung des Diktators Zine Dine Ben Ali im Jänner 2011 eingeleitet hatte, inzwischen verfahren.
Hoffnungsschimmer
Aber gerade deswegen ist der sich jetzt abzeichnende Kompromiss ein Hoffnungsschimmer, der über Tunesien hinaus wirken könnte. Gelingt es den tunesischen Parteien ihren „nationalen Dialog“ nun doch halbwegs abzuwickeln, wäre das ein Vorbild für den zerrütteten Nachbarstaat Libyen und vor allem ein Gegenbeispiel zur weitgehend blockierten Situation in Ägypten.
Für die Erfolgschancen sprechen die Initiatoren dieses Dialogs. Federführend sind die vier angesehensten und bedeutendsten Verbände der tunesischen Sozialpartner und Zivilgesellschaft: der Gewerkschaftsbund UGTT, der Unternehmerverband UTICA, die Anwaltskammer und die Menschenrechts-Liga. Schon allein deren maßgeblicher Einfluss zeugt von der politischen Reife und Widerstandskraft der tunesischen Gesellschaft.
Dieses „Quartett“, wie die vier Organisationen in Tunesien inzwischen genannt werden, hatte sich in der Folge zweier politischer Morde gebildet: im vergangenen Februar und im Juli waren jeweils ein populärer Politiker der links-säkularen Opposition von Attentätern erschossen worden. Die Anschläge sind noch immer nicht völlig aufgeklärt.
Bei Massendemonstrationen hatte die säkulare Opposition die islamistische Regierungsführung für die Morde verantwortlich gemacht. Die Regierung, in der auch zwei säkulare Linksparteien vertreten sind, beteuerte ihrerseits, die Attentäter kämen aus den Reihen der Dschihadisten-Gruppen.
Aus "Söhnen" wurden Terroristen
Ursprünglich war die islamistische Regierungspartei Nahda den gewalttätigen Übergriffen der Hyper-Islamisten an Unis und in Stadtvierteln mit Nachsicht begegnet. Ghannouchi hatte diese Extremisten-Kreise sinngemäß als seine übermütigen „Söhne“ in Schutz genommen. Als aber Dschihadisten sich in einem unwegsamen Berggebiet verschanzten und von dort aus Angriffe auf die tunesische Armee unternahmen, bei denen reihenweise Soldaten umkamen, entschlossen sich die Regierung und Ghannouchi zu einem harten Vorgehen namentlich gegen die Extremistenbewegung Al Ansar.
Die wirtschaftliche Situation hatte sich inzwischen dramatisch verschlechtert. Der Tourismus, eine der Haupteinnahmsquellen des Landes, war auf Grund des Fernbleibens vor allem der französischen Urlauber schwer eingebrochen. Zur Angst vor dem radikal-islamistischen Terror kam eine auch sonst höchst unsichere Situation: die Polizei hielt sich seit dem Sturz der Diktatur von Ben Ali bedeckt und wollte oder konnte oft weder Verkehrssünden noch Raufhändel ahnden.
Vergewaltigungsopfer in Haft
Eine Mehrfachvergewaltigung einer Studentin durch Polizisten hat das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden weiter erschüttert. Diese Affäre gelangte aber nur an die Öffentlichkeit, weil sich das Opfer trotz Einschüchterungs- und Bestechungsversuche von einer Anzeige nicht abhalten ließ. Daneben aber gibt es etliche Willkürakte gegen Frauen aus weniger gebildeten Schichten, die sich kaum Gehör verschaffen können. Aus einem Bericht von Aktivistinnen der Frauenrechtsbewegung Femen geht hervor dass, Tunesierinnen, die von ihren Männern der Untreue beschuldigt wurden, und sogar Vergewaltigungsopfer, wegen „Verstoßes gegen die guten Sitten“ Haftstrafen verbüßen.
Frauen im Landesinneren klagen: „Früher, unter Ben Ali, wurden Frauen Ausweiskontrollen durch die Polizei unterzogen, wenn sie ein islamisches Kopftuch auf der Straße trugen. Jetzt werden Frauen kontrolliert, die kein Kopftuch tragen, die ohne männliche Begleitung in eine Kaffee sitzen oder einen Minirock anhaben“.
Solche Vorfälle stoßen eher auf Reaktionen in den säkularen Oppositionskreisen, ihre negative Wirkung reicht aber weit darüber hinaus in einem Land, das unter den vormaligen Regimen eine in der arabischen Welt einzigartige Gleichstellung und Förderung der Frauen bewerkstelligt hatte.
Inkompetent und überfordert
Zahllose Betriebsschließungen, ausufernde Streiks und chronische Versorgungsengpässe haben aber inzwischen auch einen beträchtlichen Teil der konservativen Kernwähler der Islamisten verunsichert. Dazu kommt, dass sich die Nahda-Führung Fälle von Vetternwirtschaft an der Staatspitze geleistet hat und inkompetente und heillos überforderte Parteigänger an wichtige Schaltstellen des Staats berief. Resultat: zuletzt brachte Nahda keine eindrucksvollen Demonstrationen ihrer Anhänger mehr zustande.
Insofern entspringt die vorläufige Einwilligung von Ghannouchi zum Rücktritt seiner Regierung auch der Einsicht in das Scheitern seiner Partei angesichts der Herausforderungen der Amtsgeschäfte in Tunis. Das ägyptische Beispiel mit der Machtübernahme der Militärs dürfte bei seiner Entscheidung ebenfalls eine Rolle gespielt haben, auch wenn die tunesische Armeeführung bisher keine vergleichbaren Ambitionen gezeigt hat. Schließlich kann Ghannouchi durch diesen Schritt auf eine Rückkehr in der Wählergunst hoffen, zumal seine politischen Gegenspieler auch keine Begeisterungsstürme in der Bevölkerung auslösen, Die säkularen Gegner der „Nahda“ wirken oft völlig abgehoben, sie sind untereinander fürchterlich zerstritten und müssen sich außerdem mit einer besonders heiklen Frage herumschlagen: der zunehmenden Rolle in Oppositionskreisen von Persönlichkeiten, die zu den Günstlingen des Regimes von Ben Ali zählten.