Politik/Ausland

Historikerin: Von Putin keine menschliche Friedenslösung zu erwarten

Die Moskauer Historikerin Irina Scherbakowa sieht einen Zusammenhang zwischen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem Scheitern der russischen Zivilgesellschaft, eine Bewältigung der sowjetischen Vergangenheit durchzusetzen. Russlands Zukunft und auch eine etwaige neuerliche Demokratisierung hänge indes vom Kriegsverlauf in der Ukraine ab, sagte die Mitbegründerin der 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten NGO Memorial am Freitag bei einem Vortrag in Wien.

"Ich versuche den Menschen zu erklären, was dieser Krieg aus meiner Sicht ist und dass alles Mögliche getan werden muss, um die Ukraine zu unterstützen", erklärte Scherbakowa am Institut für Osteuropäische Geschichte der Uni Wien. Ein Frieden komme dabei nicht ohne Waffen und die Ukraine könne nicht ohne Waffen kämpfen, betonte die Russin, die derzeit im deutschen Jena im Exil lebt.

"Man kann von Putin überhaupt nicht erwarten, dass es auf irgendeine Weise eine menschliche Lösung für Frieden geben kann", sagte sie. Scherbakowa erinnerte dabei an Vorgänge auf von Russland besetzten Territorien der Ukraine sowie an einen Raketenbeschuss, der in der Nacht auf Freitag zu mehr als 20 Toten im zentralukrainischen Uman geführt hatte.

"Wir hatten sehr wenig Zeit"

Ausführlich referierte die Historikerin jene Entwicklungen des postsowjetischen Russlands, die ihres Erachtens den Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 möglich gemacht hatten. Das Umdenken und die Änderung des sowjetischen Systems seien seinerzeit enorm schwierig gewesen, erzählte sie über die Anfangsjahre der 1989 gegründeten und 2021 per Gerichtsbeschluss liquidierten Menschenrechtsorganisation Memorial.

"Wir hatten sehr wenig Zeit, vielleicht drei oder vier Jahre, haben das damals aber nicht gewusst", erzählte sie. Zwar sei zunächst ein progressives Archivgesetz beschlossen und die Opfer von politischen Repressionen pauschal auch rehabilitiert worden, sagte Scherbakowa. Der Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) sei 1992 jedoch im Sand verlaufen und auch eine Lustration - Amtsverbote für belastete Funktionäre und Geheimdienstler - ausgeblieben. Parallel zu den wirtschaftlichen Reformen im Land habe man zudem gesehen, dass sich die Menschen immer stärker von der Aufarbeitung der Geschichte abgewandt hätten.

Tschetschenien als Zäsur

Nicht der gewaltsam beendete Konflikt zwischen Präsident Boris Jelzin und dem Parlament 1993, sondern der erste Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 sei schließlich für Memorial eine erste Zäsur gewesen. "Wir haben aber gedacht, dass das fürchterliche koloniale Krämpfe sind", erzählte die Historikerin. Sie selbst habe damals in einem Artikel die Vorstellung, dass Russland mit der Ukraine Krieg führen könnte, als "absoluten Horror" bezeichnet.

Im Tschetschenienkrieg habe Memorial Informationen über von beiden Seiten verübte Kriegsverbrechen gesammelt und davor gewarnt, dass die Nichtaufarbeitung von Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung schwerwiegende Folgen haben würde. Die ausgebliebene Strafverfolgung erkläre auch, warum der aktuelle Krieg auf eine so brutale Weise geführt werde. "Viele, die den Krieg in der Ukraine führen, begannen ihre Quasi-Karriere in den Tschetschenienkriegen", sagte sie.

"Patriotische Doktrin" Putins

Scherbakowa verwies gleichzeitig aber auch auf eine von Wladimir Putin forcierte "patriotische Doktrin" und einen erstarkenden Militarismus in Russland als Ursachen für den Überfall auf die Ukraine. Mit dem Slogan "Wir können es wiederholen" habe es auch eine aktive Kriegsansage gegen den Westen gegeben. Zudem habe die Staatspropaganda Ressentiments verbreitet, die dazu führten, dass sich laut einer Umfrage eine große Mehrheit der Russen stolz über den sowjetischen Sieg im 2. Weltkrieg zeigten und sich für den Zerfall der Sowjetunion schämten.

Mit Verweis auf den autoritären Umbau Russlands bezeichnete sie die aktuellen Entwicklungen als "logische Geschichte". Manchmal könne man dabei nicht glauben, wo man bereits gelandet sei, sagte die Historikerin. Sie erzählte von digitalen Armee-Einberufungsbefehlen, die selbst dann wirksam würden, wenn sie beim Empfänger nicht angekommen wären. Obwohl das verfassungswidrig und eine massive Beeinträchtigung der Rechte sei, würden die Menschen jedoch nicht demonstrieren, bedauerte Scherbakowa. "Das wird hingenommen und bedeutet, dass es uns in diesen Jahren nicht gelungen ist, die Menschen (vom Wert ihrer Grundrechte, Anm.) zu überzeugen", übte sie auch Selbstkritik am Scheitern der Zivilgesellschaft.