Politik/Ausland

Linker Rebell Corbyn ist neuer Labour-Parteichef

Verstaatlichung von Eisenbahnen und E-Werken, eine staatliche Investitions-Bank, die die Wirtschaft auf die Beine bringt, Verschrottung aller britischen Atomwaffen: Wer Jeremy Corbyns Wahlprogramm liest, meint durch ein Zeitloch gefallen und irgendwo auf einem sozialistischen Parteitag in den Fünfzigerjahren gelandet zu sein.

Doch mit diesem Programm hat der 66-Jährige in den vergangenen Wochen die britische Labour-Partei völlig auf den Kopf gestellt. Als man den ewigen linken Parteirebellen, der einst schon Tony Blair auf dem Weg in die politische Mitte ständig in die Quere kam, als letzten Kandidaten für die Wahl des Parteichefs aufstellte, wollte die Parteispitze eigentlich nur dem linken Parteiflügel ein Trostpflaster gönnen.

Wahlsieg im ersten Durchgang

Doch daraus wurde nichts. Denn der Fahrradfahrer mit dem Pensionistenanorak und den meist kragenlosen Hemden trat in Eigenregie und zum Entsetzen der Labour-Führung die größte Bewegung an der Parteibasis seit Jahrzehnten los - und steht nun an der Spitze. Er setzte sich bei der Wahl am Samstag gegen drei Gegenkandidaten durch. Er gewann mit 59,5 Prozent der Stimmen und siegte damit bereits im ersten Durchgang

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Umjubelt wie Popstars

Von Rede zu Rede, die Corbyn hielt, wuchs die Begeisterung. In den Industriestädten Mittelenglands, Labours in den letzten Jahren zerbröckelnden Bastionen, platzten die Versammlungen aus allen Nähten.

Wie bei einem Popkonzert verfolgten Hunderte Corbyns Reden auf Videoleinwänden auf der Straße. Sätze wie "Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, die zur Abwechslung wieder anständig und egalitär ist" sorgen für minutenlangen Applaus. Attacken gegen die "Profitgier der Banker" oder "verrückte Investitionen und verantwortungslose Spekulanten" werden mit "Jeremy ist hier"-Parolen aus dem Publikum beantwortet.

Die Trendwende begann mit dem Labour-Fiasko bei den Parlamentswahlen im Frühjahr. Ed Miliband, der die Partei halbherzig nach links gerückt hatte, blieb chancenlos. Seither regieren die Konservativen unter David Cameron im Alleingang und Labour schlitterte in eine tiefe Identitätskrise.

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"Todesurteil für die Partei"

Die Parteiführung plädierte offen dafür, sich wie einst unter Tony Blair in die politische Mitte zu begeben, die Parteibasis aber hatte keine Lust, ihnen dorthin zu folgen. Corbyn gab dieser Unlust auf einmal ein Ziel. "Wehren wir uns doch endlich gegen, das, was die Konservativen tun", gab er als Parole aus: "Wir können sie nicht besiegen, wenn wir nur irgendwie nachäffen, was sie tun."

Bei Labour jagt Corbyn vielen Angst ein. Ein "Todesurteil für die Partei" sei er, der mit "kommunistischen Gedanken" Politik machen wolle. Die Partei werde so endgültig aufs Abstellgleis geführt, die Mehrheit der Konservativen für Generationen einzementiert. Und auch die geben sich angesichts des neuen Labour-Stars demonstrativ gelassen . "Diese Partei ist in Richtung Extremismus abgedriftet", spottete Finanzminister George Osborne:"Sie hat das intellektuelle Spielfeld und die arbeitenden Menschen dieses Landes verlassen."

Corbyn kann so etwas nicht irritieren. Ob er die Wahl nun gewinne oder nicht, meinte er im Vorfeld, sei letztendlich egal:"Wir haben die Politik in Großbritannien schon verändert. Der Grundsatz, dass nur das Individuum zählt, wird infrage gestellt. Für uns geht es wieder um das Gemeinwohl von uns allen."