Politik/Ausland

Gelbwesten: Macron zückt letzte Karte

Emmanuel Macron spielt möglicherweise morgen seine letzte Karte in dem seit über acht Wochen andauernden Kräftemessen mit den „Gelbwesten“. Der Staatschef wird sich Dienstag einer ersten Diskussion in einer kleinen Provinzortschaft in der Normandie stellen, bei der es „keine Tabus“ geben soll.

Das ist der Auftakt einer bis Mitte März anberaumten landesweiten Debatte („Le Grand Débat national“) – mit und ohne Regierungspolitikern, in Rathäusern, bei Straßenständen und im Web, unter Anregung von Bürgermeistern oder auf Eigeninitiative von Bürgern und Vereinen. Die Ergebnisse, so Macron, sollen in einem „neuen Pakt mit der Nation“ münden und die künftige Regierungspolitik „strukturieren“.

Allerdings hat Macron in einem heute, Montag, in Zeitungen und im Web veröffentlichen, ausführlichen „Brief“ an die Bevölkerung den Rahmen vorgegeben. Vier Themenkomplexe stehen im Vordergrund: Steuerpolitik und öffentliche Ausgaben, Staatsreform und öffentliche Dienste, ökologische Umwandlung, Demokratie und Bürgermitsprache. Unerwartet und trotz Abraten seines Premierministers hat Macron auch die Migration (mit dem Vorschlag einer jährlichen Eiwanderungs-Höchstquote) und die Bewahrung des säkularen Staats (was auf eifernde Islamisten zielt) zur Diskussion gestellt.

Ausgefuchste Fragen

In seinem Brief versucht Macron mit 34 ausgefuchsten Fragen die „Gelbwesten“ mit ihren eigenen Widersprüchen zu konfrontieren und vor der Öffentlichkeit in die Verantwortung zu nehmen. So fragt er die Bürger: „Welche Steuern sollte man aus Ihrer Sicht prioritär senken?“ Nachsatz: „Wie dem auch sei, wir können nicht weiter die Steuern senken, ohne das Niveau unserer öffentlichen Ausgaben zu senken. Welche Einsparungen erscheinen Ihnen vorrangig?“

Die meisten Aktivisten der „Gelbwesten“ sehen in dieser Initiative von Macron ein „abgekartetes Spiel“. So hat der Staatschef von vornherein versichert, dass er seine bisher beschlossenen Maßnahmen „zur Ermutigung der Investitionen“ keinesfalls rückgängig machen werde. Das zielt vornehmlich auf die Vermögenssteuer (die in Frankreich ursprünglich ab 1,3 Millionen Euro galt), die Macron zu einer geringeren Steuer auf Immobilienbesitz reduzierte. Während die „Gelbwesten“ vielfach auf die Wiedereinführung der vormaligen Vermögenssteuer und darüber hinaus einen schärferen Steuerkurs gegenüber Konzernen und die Abschaffung der Abgaben auf Verbrauchsgüter pochen.

Diese Forderungen dominieren auch in den Beschwerde-Heften, die Bürgermeister in Provinzgemeinden aufgelegt haben. Dazu kommt der Ruf nach Erhöhung der Mindestgehälter und Renten, die Wut über reale oder vermeintliche Privilegien von Spitzenbeamten und Politikern. Wobei auch immer wieder die Neuanschaffung des Geschirrs im Elysée-Palast (um eine halbe Million Euro) und die Errichtung eines Swimmingpools in der staatlichen Sommerresidenz des Präsidenten für Erbitterung sorgen.

Kaum Chancen auf Gehör

Macron hat kaum Aussicht, diese einkommensschwächeren Teile der Bevölkerung abseits der Metropolen, die den „Gelbwesten“ laut Umfrage weiterhin die Treue halten, umzustimmen. Sein Ziel ist eher die besser situierten oder zumindest zuversichtlicheren Teile der Bevölkerung, neuerlich für sich zu mobilisieren, um – spätestens bei den EU-Wahlen im Mai – der Nationalistin Marine Le Pen, dem Linkstribun Jean-Luc Melenchon und einer etwaigen Gelbwesten-Liste halbwegs etwas entgegenhalten zu können.

Die landesweite Debatte soll aus der Sicht Macrons die weiter rebellierenden Gelbwesten als gesprächsunfähig und bedrohlich brandmarken. Teile der „Gelbwesten“ kommen ihm dabei entgegen: zuletzt häuften sich gewaltsame Angriffe von „Gelbwesten“ auf Journalisten. Es setzte Prügel, Journalistinnen wurden „Vergewaltigungen“ angedroht. Die Sitze von Regionalzeitungen wurden belagert, ihre Auslieferung verhindert.

Gewalt gegen Journalisten und Parlamentarier

Ob Redakteure von kleinen Lokalmagazinen oder Reporter von TV-Sendern, alle gelten als Vertreter der „Lügenpresse“, über die rechte und linke Hetzer im Internet ständig toben. Dabei widmen diese Regionalzeitungen und TV-Sender den „Gelbwesten“ enorme Aufmerksamkeit und lassen deren Aktivisten ständig und ungefiltert zu Wort kommen.

Auch die Wahl des Diskussions-Orts durch Macron für den Start des „Grand Débat“ ist nicht zufällig erfolgt: Die 4000 Einwohner-Gemeinde Grand Bourgtehoulde (ein Name, der auch für Franzosen auf Anhieb kaum aussprechbar ist und vermutlich auf die Wikinger zurückgeht) war Schauplatz einer nächtlichen Attacke von dutzenden vermummten „Gelbwesten“ auf den privaten Wohnsitz des örtlichen Abgeordneten der Partei von Präsident Macron, der LRM („La République en marche“).

Seine Familie hörte Schüsse, anderntags fand der Parlamentarier leere Patronenhülsen, die von Jagdgewehren stammten, in seinem Garten. Viele weitere Abgeordnete der LRM erlitten derartige Überfälle und wurden mit Mord- und (im Fall von Frauen) mit Vergewaltigungs-Drohungen überhäuft. In seinem Brief an die Franzosen hatte Macron geschrieben: „Wir sind ein Volk, das die Debatte nicht fürchtet. Wir werden nicht in allem übereinstimmen, das ist normal, das ist die Demokratie. (…) Aber ich akzeptiere keine Form der Gewalt. Wenn jeder jeden bedroht, zerbricht die Gesellschaft“.