Politik/Ausland

Frankreichs "Fall Arigona"

Sie sind nicht im Unterricht, wir auch nicht“, riefen tausende Mittelschüler, die am Freitag, in Paris und mehreren weiteren Städten, für die Rückkehr zweier ausgewiesener Migrantenkinder, einem Armenier und einer Roma aus einer kosovarischen Familie, demonstrierten. Die Schüler, die schon am Donnerstag aufmarschiert waren und nun Verstärkung durch Studenten-, Lehrer- und Elternverbände erhielten, könnten zumindest in einem Fall einen Sieg erringen.

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Die 15-jährige Leonarda Dibrani, die mit ihrer Familie am 9.Oktober nach Kosovo ausgeflogen worden war und sich zurzeit in Mitrovica aufhält, könnte die Erlaubnis zur Rückkehr, wiederum mit ihrer Familie, in das ostfranzösische Departement Doubs erhalten.

Dort war die Absolventin einer Hotelfach-Ausbildung, unter Protesten der begleitenden Lehrerin und Klassenkameraden, aus einem Schulbus geholt worden. Die Dibranis, eine Roma-Familie, hielt sich seit 2009 in Frankreich auf. Seit 2011 lag ein Ausweisungsbescheid vor.

Ein Tabubruch

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Aber die Festnahme von Migrantenkindern in der Schule gilt als tabu und ist seit der Amtsübernahme von SP-Präsident Francois Hollande auch verboten. Schon sein konservativer Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy musste davon Abstand nehmen, nachdem sich eine breite Protestbewegung von Eltern und Lehrern dagegen gestemmt hatte. SP-Bürgermeister nahmen feierliche „Republikanische Patenschaften“ für die gefährdeten Kinder vor.Dass jetzt unter einer Linksregierung dieses Tabu gebrochen wurde, erschütterte bis in die Reihen der Minister. SP-Premier Jean-Marc Ayrault beteuerte, er habe „Verständnis für die Emotion“. SP-Parlamentspräsident Claude Bartolone warnte, die Linke würde „ihre Seele verlieren“. Die Lebensgefährtin von Präsident Hollande, Valerie Trierweiler, erklärte: „Ich fühle mich betroffen. Die Schule muss Chancengleichheit bieten und darf nicht ausschließen“. Die sozialistische Kandidatin für das Amt des Bürgermeisters in Paris bei den kommenden Gemeindewahlen, Anne Hidalgo, die ihre Initiativen allesamt mit dem aktuellen SP-Bürgermeister Bertrand Delanoe abspricht, rief eigens eine Pressekonferenz ein, um die sofortige Rückkehr des ausgewiesenen 19 jährigen armenischen Schülers Khatchik Khachatryan, nach Paris zu verlangen: „Wenn sich Gesetze und Dekrete auftürmen und einander widersprechen, muss man sich an die Grundwerte unserer Republik und unserer Stadt halten. Paris ist eine weltoffene Stadt der Mischung, in der wir darauf Wert legen, dass alle Pariser ihre Schulbildung zu einem erfolgreichen Abschluss bringen, als Grundsockel für die Integration“.

Die Regierung ließ unterdessen einen Untersuchungsbericht über die Ausweisung erstellen. Demnach könnte die Festnahme aus dem Schulbus heraus als Fehler eingestuft und die Ausweisung annulliert werden. Für Innenminister Manuel Valls wäre das eine erste Niederlage. Valls, der als harter Ordnungspolitiker auftritt und als populärstes Regierungsmitglied gilt, hatte die Ausweisung ursprünglich gerechtfertigt.

Spott für Innenminister Valls

Die grüne Wohnbauministerin Cecile Duflot resümierte mit ironischem Unterton: „Das wichtigste in dieser Sache ist die Veranschaulichung der Integration. Leonarda war fast fünf Jahre bei uns in der Schule, und jeder konnte bei ihren Interviews hören, wie sie perfekt Französisch spricht, noch dazu mit dem Akzent des Doubs. Das beweist, dass unsere Republik Kinder integriert, von wo auch immer sie kommen.“ Das war eine Retourkutsche für eine Äußerung von Valls, der behauptet hatte, Roma-Migranten wären wegen ihrer „Lebensart“ kaum integrierbar. Für Teile der französischen Öffentlichkeit ist diese Affäre auch der Anlass für eine Generalabrechnung mit dem Kurs der Staatsführung. Sie werfen Hollande vor, er würde sich den Wünschen der Unternehmerverbände und den Sparauflagen der EU allzu sehr fügen. Das würde dazu führen, dass etliche Wähler, die 2012 für Hollande gestimmt hatten, nunmehr aus Enttäuschung Wahlenthaltung üben. Tatsächlich haben die linken Regierungsparteien (SP und Grüne, stellenweise im Verbund mit der KP, die nicht an der Regierung beteiligt ist) bisher alle Lokalwahlen seit dem Amtsantritt von Hollande verloren. In drei von 12 Fällen verbuchte die Rechtsaußenpartei „Front national“ von Marine Le Pen spektakuläre Gewinne.

Um der Nationalpopulistin Marine Le Pen (Bild) gegenzusteuern, lässt Hollande seinem Innenminister freie Hand. Aber die Kritiker von Valls glauben, dass dieser – vergeblich – Le Pen hinterherlaufen würde. In der überraschenden Mobilisierung der Schüler sehen sie eine Chance, das Steuer in der innenpolitischen Debatte wieder herum zu reißen und zu einer Klimaveränderung beizutragen.