Flüchtlingspolitik entzweit erneut die EU
Das Abendessen der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstagabend des Gipfeltreffens in Brüssel könnte stürmisch verlaufen. Grund ist Gastgeber und Ratspräsident Donald Tusk, der vorab schrieb: "Das Thema der verpflichtenden Quoten hat sich als hochgradig entzweiend und der Ansatz als wirkungslos erwiesen."
Hinter der von einigen Gipfelteilnehmern als provokant empfundenen Formulierung steht nichts weniger als die Annahme: Die bisherige Flüchtlingspolitik der EU, vor allem die Aufteilung der in der EU gestrandeten Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten, funktioniert nicht. Tusks Schlussfolgerung: Wie die EU künftig mit der Flüchtlingsfrage umgehen soll, müsse offen und neu diskutiert werden. Start heute Abend beim Gipfel.
Nicht nur bei der EU-Kommission erntete Tusk dafür wütende Kritik. Vize-Präsident Timmermans wies Tusks Anregung empört zurück: Die europäische Solidarität werde in Frage gestellt. Tusk handle "anti-europäisch", ärgerte sich gar der griechische EU-Flüchtlingskommissar Avramopoulos.
Kritik aus Deutschland
Bitterböse Kritik hagelte es vor allem aus Deutschland, das im Rahmen der Umverteilung die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat: Tusk könne sich nicht gegen eine Regelung stellen, die in der EU mit allergrößte Mühe als Lösung nach der Flüchtlingskrise 2015 durchgesetzt worden sei. Besserer Schutz der EU-Außengrenzen, mehr Engagement in den Ursprungsländern und die Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen innerhalb Europas – das sind die drei Pfeiler, auf die die Kommission seit zwei Jahren ihre Migrationspolitik stellt.
Tatsächlich aber wurden nur rund 30.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten gebracht. Polen, Ungarn und Tschechien haben sich überhaupt geweigert. Die Kommission zog deswegen gegen die drei Staaten vor den Europäischen Gerichtshof. Zudem klaffen in der EU-Migrationspolitik weitere riesige Lücken: Es gibt kein reformiertes Asylsystem. Dass Tusk seine Finger auf die Wunden der EU-Flüchtlingspolitik legte, wird zwar offen kritisiert. Hinter vorgehaltener Hand aber sind auch andere Töne zu hören. "Tusk hat oft viel mehr Gespür für die Lage als die Kommission", schildert etwa ein konservativer EU-Abgeordneter dem KURIER.
Uneinig auch in Wien
Tusks Vorstoß war am Mittwoch auch im EU-Hauptausschuss des Parlaments in Wien ein Thema. Es war wohl das letzte Zusammentreffen von Noch-Kanzler Christian Kern und Außenminister Sebastian Kurz mit dieser Rollenverteilung – und für Österreich zeichnet sich in der Flüchtlingsfrage ein Kurswechsel ab: Kern, der heute beim Ratsgipfel zum letzten Mal dabei sein wird, tritt für die Beibehaltung der Quote ein: "Es muss ein System der Verteilung geben, sonst tragen wieder nur dieselben Länder, darunter Österreich, die ganze Last", sagte der SPÖ-Kanzler.
Kurz folgt hingegen der Linie des EU-Ratspräsidenten. Auch er zweifelt an der Sinnhaftigkeit der Quote, da sie schlicht "nicht funktioniert", betont er: "Wir sollten uns stattdessen auf einen ordentlichen Schutz der Außengrenzen und einen Stopp illegaler Migration konzentrieren." Österreich war zuletzt aufgrund des Flüchtlingsstroms von 2015 und 2016 von der Quote ausgenommen, Innenminister Wolfgang Sobotka hatte aber zugesagt, 50 Flüchtlinge aus Italien aufzunehmen. Bis dato waren es nur 17. Wie man weiter verfahren wird, lässt ÖVP-Chef Kurz offen. Nur so viel: "Wir sind für einen Systemwechsel."