Politik/Ausland

Faymann: "Stacheldraht ist keine Empfangsstelle für Menschen"

Nicht nur EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat Kanzler Werner Faymann ausdrücklich gedankt, dass er Flüchtlinge aus Ungarn ohne bürokratische Hürden nach Österreich einreisen und nach Deutschland hat weiterreisen lassen.

Auch Amnesty International, sonst aufseiten der schärfsten Kritiker, hat sich in der "dramatischen Nacht" auf Samstag bei Faymann und Innenministerin Johanna Mikl-Leitner für die rasche humanitäre Lösung einer Grenzöffnung für aus Ungarn kommende Flüchtlinge bedankt.

Vorangegangen waren extrem hektische Stunden, die Telefone zwischen Faymann, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und Ungarns Viktor Orban liefen seit Freitagabend heiß.Wiewohl die ungarische Seite behauptet, Faymann habe Orban „stundenlang“ warten lassen und sei erst um Mitternacht erreichbar gewesen.

In Luxemburg mobilisierte Außenminister Sebastian Kurz seine Kontakte. Sie waren ja alle vor Ort, gerade beim Empfang des Großherzogs von Luxemburg, als die Nachricht, dass Ungarn die Flüchtlinge Richtung Österreich losschickt, Kurz erreichte. Er sprach umgehend mit seinem deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier und dem ungarischen Kollegen. Der Außenminister: "Es war eine sehr professionelle Vorgangsweise."

Zeitkritische Notlösung

Bevor der erste ungarische Bus mit Flüchtlingen um ca. 4.00 morgens an der österreichischen Grenze angekommen war, stand die mit Deutschland abgestimmte Notlösung für Tausende ankommende Menschen (siehe den KURIER-Liveticker).

Wie es weitergeht, wie viele Flüchtlinge kommen, weiß niemand exakt zu sagen. Berlin betont, man wolle keinen Präzedenzfall schaffen. Die Hilfe sei vielmehr "Erinnerung daran, dass die Verpflichtungen für Ungarn aus dem Dubliner Abkommen nicht etwa aufgehoben sind." Die Vereinbarung regelt, dass derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Asylbewerber erstmals EU-Boden betritt, für das Asylverfahren verantwortlich ist.

Neue Anlaufstellen

Auch Faymann erhöht den Druck: "Orban ist nicht aus der Verpflichtung zu lassen. Ein Stacheldraht ist keine Empfangsstelle für Menschen, die um ihr Leben fürchten. Es braucht eine gemeinsame Grenzsicherung mit Asylzentren, wo dann auch jemand da ist, der den Flüchtenden eine faire Chance gibt."

Am Mittwoch wird Kommissionspräsident Juncker dazu einen neuen Plan vorlegen. Dieser soll ein Befreiungsschlag werden, aber viele EU-Staaten zweifeln oder lehnen einen verpflichtenden Aufteilungsschlüssel strikt ab – zuletzt Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn.

Außenminister Kurz sieht in diesem Zusammenhang Schengen und die offenen Grenzen innerhalb der EU in Gefahr, weil es keine effiziente Kontrolle der Außengrenze gibt. Kurz sagt: "Derzeit haben wir keine Grenzsicherheit. So ehrlich muss man sein."

Kern des Juncker-Plans ist: Zusätzlich zu den bereits vorgeschlagenen 40.000 sollen weitere 120.000 Flüchtlinge auf alle EU-Staaten aufgeteilt werden – Einigkeit darüber gibt es nicht. 54.000 kämen aus Ungarn, 50.400 aus Griechenland und 15.600 aus Italien. Österreich müsste zusätzlich 3640 Flüchtlinge aufnehmen. Auch die Bekämpfung der Fluchtursachen wird im Juncker-Plan groß geschrieben: Ein Fonds von mindestens einer Milliarde Euro soll für Wirtschaftsprojekte in einigen afrikanischen Ländern eingerichtet werden. Auch die Türkei soll für die Aufnahme von Flüchtlingen jährlich rund 500 Millionen Euro bekommen, kündigte EU-Kommissar Hahn (siehe auch Artikel unten) an – und er sieht noch viel auf die EU zukommen. "Wir stehen erst am Anfang. 20 Millionen Flüchtlinge warten vor den Grenzen der EU auf Weiterreise."

Nach dem Akt der Menschlichkeit, der am Ende des Außenministertreffens am Samstagnachmittag Österreich viel Lob einbrachte, waren die versammelten EU-Politiker zunächst baff. Keiner wollte zu den Ereignissen in Ungarn, Österreich und Deutschland Konkretes sagen. Zuerst mauerten sie, man hatte den Eindruck, die dramatische Situation würde sie überfordern. Eine hohe Diplomatin war den Tränen nahe. Mit dünner Stimme brachte sie nur über die Lippen: "Was sollen wir tun?"

Als Erster reagierte Johannes Hahn, der für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik zuständige EU-Kommissar. Er zeigte "größten Respekt für die Entscheidung der österreichischen und deutschen Regierung. Wir können unsere Augen nicht vor dieser humanitären Krise verschließen. Diese neuerliche Zuspitzung zeigt nur, wie dringend ein gesamteuropäischer Lösungsansatz ist", sagte er zum KURIER.

Hahn spricht von einem "ernsten Testfall für Europas Einheit, Solidarität und Werte". Die Krise könne nur dann gemeistert werden, wenn jedes Land seine Verantwortung wahrnimmt. "Es geht nicht an, dass einzelne Länder die Last alleine schultern müssen und andere sich wegducken." Hahn sagt, dass "die Zeit für Diskussionen und Betroffenheitsrhetorik vorbei ist. "Wir müssen handeln: unverzüglich und in Geschlossenheit". Österreich und Deutschland haben dies von Freitag auf Samstag vorgeführt.