EU wird europäisch: Erste "Elefantenrunde" in Brüssel
Eine Woche, bevor die EU-Wahl kommenden Donnerstag mit der Öffnung der Wahllokale in den Niederlanden und Großbritannien offiziell beginnt, erreichte der Wahlkampf auf europäischer Ebene Donnerstagabend seinen Höhepunkt: Im EU-Parlament in Brüssel fand die erste Fünfer-Konfrontation der EU-weiten Spitzenkandidaten statt. Ein Meilenstein: In gut 20 EU-Ländern wurde die 90-minütige Debatte zwischen Jean-Claude Juncker (Europäische Volkspartei), Martin Schulz (Sozialdemokraten), Guy Verhofstadt (Liberale), Ska Keller (Grüne) und Alexis Tsipras (Linke) live im Fernsehen übertragen; die European Broadcasting Union rechnete mit bis zu 100 Millionen Zusehern.
Trotz der Sprachbarriere (Schulz, Keller und Verhofstadt diskutierten auf Englisch, Tsipras und Juncker auf Griechisch bzw. Französisch) entwickelte sich eine flotte Debatte. In maximal einer Minute mussten die Kandidaten ihren Standpunkt zum jeweiligen Thema darlegen. So konnte vom Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit über die Ukraine-Krise bis zu religiösen Symbolen im öffentlichen Raum Einiges besprochen werden. Oft fehlte jedoch die Zeit, um Unterschiede herauszuarbeiten.
Legale Zuwanderung
So waren sich etwa alle einig, dass die EU gemeinsam die legale Migration nach Europa stärken müsse – Details blieben aber offen.
Differenzen gab es in der Frage, wie mit separatistischen Regionen umzugehen ist: Verhofstadt und Juncker meinten, die EU solle sich nicht einmischen; Schulz betonte, ein unabhängiges Schottland könne sich für den Beitritt bewerben. Keller ging noch einen Schritt weiter: „Ich würde ein unabhängiges Katalonien und Schottland wieder aufnehmen.“
Grundverschieden die Schwerpunkte in Wirtschaftsfragen: Schulz will Klein- und Mittelbetriebe als „Rückgrat der Wirtschaft“ mit Krediten stärken, wohingegen Keller auf nachhaltiges Wirtschaften durch Öko-Ökonomie setzt. Juncker betonte die Notwendigkeit ausgeglichener Budgets, während Tsipras gegen die Sparpolitik der letzten Jahre wetterte. Verhofstadt führte an, nur eine weiter vertiefte Union würde das Potenzial des EU-Marktes freisetzen.
Auffällig die Unterschiede im Stil: Auf der einen Seite Keller und Tsipras, beide angriffig, beide in Opposition zur EU-Politik der vergangenen Jahre, die von Sozial- und Christdemokraten geprägt war; auf der anderen Juncker, wie immer staatsmännisch, und Schulz, staatsmännisch wie selten; dazu der übersprudelnde, stets unterhaltsame Verhofstadt.
Frage der Demokratie
Eine einhellige Botschaft gab es an die 28 Staats- und Regierungschefs, die den oder die Chef(in) der nächsten Kommission nominieren: Es kann nur einer aus dem Quintett werden. Die deutsche Kanzlerin Merkel will von diesem Automatismus nichts wissen, doch selbst „ihr“ Kandidat Juncker sagte gestern: „Alles andere wäre eine Verneinung der Demokratie.“ Für Schulz war klar: „Der nächste Präsident der Kommission steht hier auf dieser Bühne.“
Hier können Sie die TV-Debatte nachlesen.
An der SPÖ-Basis und unter roten Funktionären wird der Unmut immer größer, den EU-Kommissar erneut der ÖVP zu überlassen.
Der mächtige Chef des Österreichischen Pensionistenverbandes, Karl Blecha, reklamiert den Kommissar für die SPÖ, sollte sie die EU-Wahl gewinnen. Der Delegationsleiter der SPÖ-Abgeordneten im EU-Parlament, Jörg Leichtfried, fordert dies seit Langem. Viele Gesprächspartner in der SPÖ weisen darauf hin, dass die Partei nicht einerseits die konservative bis neo-liberale Politik der Kommission anprangern und auf der anderen Seite auf den Kommissarsposten verzichten könne.
Zwei Namen werden in der SPÖ immer häufiger für den Job genannt: der international anerkannte Finanzexperte Thomas Wieser, der seit Anfang 2012 als "Mister Euro" in Brüssel tätig ist. Wieser ist Mastermind der Euro-Finanzminister und bereitet die Entscheidungen der Euro-Gruppe vor. Fiskalunion, Bankenunion – alle wichtigen Beschlüsse verhandelt er mit.
Der andere ist der scheidende Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Hannes Swoboda. Vom KURIER gefragt, sagt Swoboda jedoch, er stünde nicht zur Verfügung: "Nein. Ich gebe ja nicht einen Vollzeitjob auf, um einen anderen anzunehmen." Swoboda unterstützt aber die Forderung vieler Parteigenossen: "Der nächste österreichische Kommissar sollte ein Sozialdemokrat sein."
Faymann will Hahn
Parteichef Werner Faymann ist über die Kommissarsdebatte absolut nicht erfreut. Er will Ruhe haben – und hat bisher Sympathie für Regional-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) gezeigt. Faymann, Wiens Bürgermeister Häupl und Wirtschaftskammer-Chef Leitl würden Hahn gerne für eine weitere Periode in der Kommission haben.
Doch selbst in der ÖVP ist nicht fix, dass Hahn unterstützt wird. Sollte die ÖVP Platz 1 bei der EU-Wahl verlieren, könnte Finanzminister und Parteichef Michael Spindelegger nach Brüssel gehen. Sollte Othmar Karas den ersten Platz für die ÖVP verteidigen, könnte Karas Anspruch auf den Kommissarsposten erheben.
In der Regierung heißt es, der Kommissar werde nach der EU-Wahl nominiert, möglicherweise erst nach der Entscheidung über den Kommissionspräsidenten.