Juncker wird Kommissionschef
Für das Mittagessen nahmen sich die EU-Granden bei diesem Gipfel besonders viel Zeit – allerdings nicht, um das exquisite Menü zu genießen, sondern um Jean-Claude Juncker offiziell als neuen Präsidenten der EU-Kommission zu nominieren.
Beim Lunch, bei dem die Staats-und Regierungschefs ganz alleine ohne Berater am ovalen Tisch saßen, ergriff der britische Premier David Cameron sofort das Wort: In einer emotionalen Rede argumentierte er – mehr für das britische Publikum als für die Anwesenden –, warum er gegen Juncker ist. Die EU-Spitzen "könnten den Prozess zur Auswahl des Kommissionspräsidenten noch bereuen".
Bundeskanzler Werner Faymann sprach von "einer guten Entscheidung für Europa"; Juncker sei der richtige Mann für die Kommissionsspitze. Faymann geht davon aus, dass über das Prozedere, wie der Kommissionschef bestimmt wird, noch eine Diskussion unter den EU-Spitzen geführt werden wird. Nicht nur Cameron, auch einige andere Regierungschefs sind nicht glücklich damit, dass – wie diesmal erstmals – vor der Wahl EU-weite Spitzenkandidaten gekürt werden.
Im Chefsessel Europas
In einem Punkt hat der 59-jährige Luxemburger die Macht des Parlaments zu fürchten: Gelingt es ihm nicht, ausreichend Frauen für seine Führungscrew zu gewinnen, drohen die Abgeordneten mit Zoff. Derzeit hat er erst eine Zusage: Italien nominiert Chefdiplomatin Federica Mogherini, sie soll die Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik werden. Diese Position soll mit den anderen Topjobs (Ratspräsident, Eurogruppenchef) bei einem Sondergipfel am 16. Juli, wenige Stunden nach Junckers Wahl im Parlament, besprochen werden.
Porträt Juncker:
Die intensive Suche nach Frauen ändert aber nichts an der bevorstehenden Nominierung von Johannes Hahn für eine zweite Amtszeit, wurde dem KURIER von Regierungskreisen bestätigt. Die Bestellung dürfte am Dienstag vom Ministerrat erfolgen. Hahn war ein Thema beim Treffen von Faymann mit Juncker Freitagfrüh. Es war das einzige bilaterale Gespräch, das Juncker vor seiner Bestellung hatte. Faymann unterstützte Juncker von Anfang an und organisierte die Pro-Juncker-Position unter den insgesamt elf sozialdemokratischen Regierungschefs. Dem Vernehmen nach war die Stimmung zwischen Juncker und Faymann ausgesprochen herzlich und zuversichtlich.
Wie der für strategisches und taktisches Vorgehen bekannte Juncker die Regierungen überzeugen wird, Frauen zu benennen, ist offen. Bisher gibt es neun Kommissarinnen, diese Zahl darf Juncker nicht unterschreiten, denn sonst droht das Nein des Parlaments zu seinem Team.
Der EU-Gipfel der 28 Staats- und Regierungschefs am Freitag in Brüssel brachte eine Reihe von Beschlüssen. Dabei geht es vor allem um den Posten des Kommissionspräsidenten und die Ukraine-Krise. Ein Überblick:
KOMMISSIONSPRÄSIDENT: Die EU-Chefs nominierten den ehemaligen luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker als neuen Präsidenten der Europäischen Kommission - trotz Unstimmigkeiten. Ungarns Präsident Viktor Orban und der britische Premier David Cameron votierten gegen die Personalie. Für Cameron und andere Kritiker ist Juncker die Verkörperung einer "alten", entrückten und überregulierten EU. Bevor Juncker Kommissionspräsident werden kann, muss nun noch das Europarlament zustimmen.
ASSOZIIERUNGSABKOMMEN: Georgien, Moldau und die Ukraine unterschrieben Partnerschaftsabkommen mit der EU. Das Ukraine-Abkommen sollte ursprünglich schon im November 2013 beim EU-Ostpartnerschafts-Gipfel in Vilnius unterschrieben werden. Der damalige Präsident Viktor Janukowitsch verweigerte aber auf Moskauer Druck hin die Unterzeichnung. Der politische Teil des Abkommens mit der Ukraine wurde bereits am 21. März unterzeichnet; der Handelsteil jetzt auf dem Gipfel in Brüssel. Allerdings soll er erst nach trilateralen Gesprächen zwischen der Ukraine, Russland und der EU-Kommission umgesetzt werden.
UKRAINEKRISE: Die EU-Chefs setzen Russland eine Frist bis zu diesem Montag (30.6.), um die Lage zu entspannen. Bis dahin müsse es unter anderem "substanzielle Verhandlungen" über den Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko geben, erklärten die Staats- und Regierungschefs. Die Freilassung von Geiseln und die Rückgabe dreier Grenzkontrollpunkte sind weitere Forderungen, die bis Montag erfüllt werden müssen.
Unterdessen sind die USA der Meinung, dass das Partnerschaftsabkommen ein Scheitern der Ukraine-Strategie Moskaus ist. "Genau das, was Präsident Wladimir Putin mit seinem Eingreifen in der Ukraine verhindern wollte, ist jetzt geschehen", sagte Außenamtssprecherin Marie Harf in Washington. "Es ist heute genau das Gegenteil dessen passiert, was er verhindern wollte", sagte sie.
STABILITÄTS- UND WACHSTUMSPAKT: Die EU-Staatenlenker wollen sich an die Stabilitätsregeln halten. "Wir respektieren den Stabilitäts-und Wachstumspakt", heißt es in einer Erklärung. Der Satz wurde neu eingefügt. Die Chefs bleiben bei der Formulierung, dass die im Pakt eingebaute Flexibilität "bestens" genutzt werden solle. Das bedeutet beispielsweise, dass Defizitsündern mehr zeitlicher Spielraum gegeben wird.
ENERGIE: Laut der Abschlusserklärung befürworten die EU-Chefs die "verstärkten Anstrengungen, um Europas hohe Energieabhängigkeit zu reduzieren" und unterstützen "äußerst dringliche Maßnahmen" noch vor dem nächsten Winter. Konkret nennt das Papier die Absicht, Gaslager aufzustocken, nationale Notfallpläne zu erstellen und Gaslieferungen Richtung Osten zu ermöglichen. Grundlegende Beschlüsse sind erst für den Gipfel im Oktober geplant.
INNERES: Eine Reihe von Vorschlägen gab es von den EU-Chefs für die europäische Innenpolitik. So sollen beispielsweise die EU-Grenzkontrollen "modernisiert" werden. Außerdem müsse die Migrationspolitik besser und früher in den Herkunftsregionen der Einwanderer anknüpfen. Bis 2015 soll zudem ein Rahmenvertrag für Datenschutz beschlossen und bis Mitte 2015 die Sicherheitsstrategie der EU in Sachen Terrorismus überarbeitet werden.
Nach der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zückte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko noch einmal den Kugelschreiber, mit dem er gerade unterschrieben hatte: "Vilnius, 29. November" war darauf zu lesen – für diesen Tag war die Unterzeichnung ursprünglich geplant gewesen, der damalige Präsident Janukowitsch blies sie kurzfristig ab, was die anhaltende Krise in der Ukraine auslöste.
"Damals ist es nicht passiert", sagte Poroschenko, "aber der Kugelschreiber ist derselbe, um zu zeigen: Historische Ereignisse sind unvermeidlich".
EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy sprach von einem "Meilenstein in der Geschichte unserer Beziehungen"; Poroschenko sagte, es handle sich "um den wichtigsten Tag für mein Land seit unserer Unabhängigkeit".
Tatsächlich rückt die Ukraine damit ein Stück näher an Europa heran: Nachdem im März schon der politische Teil des Abkommens unterzeichnet wurde, folgte am Freitag jener zum Handel. Und der könnte der wirtschaftlich angeschlagenen Ukraine rasch helfen, indem sie Zugang zum EU-Markt mit mehr als 500 Millionen Verbrauchern erhält: Vorgesehen ist, dass beide Seiten fast vollständig auf Zölle für Handelswaren verzichten, die Ukraine passt dafür ihre Vorschriften an jene der EU an. Zudem wird der freie Kapitalverkehr garantiert, die Ansiedlung von Betrieben erleichtert, öffentliche Ausschreibungen für die andere Seite werden geöffnet.
Signal an Russland
In abgeschwächter Form und mit weniger ehrgeizigen Zeitplänen gilt all das auch für Georgien und Moldau: Auch mit ihnen wurden am Freitag in Brüssel Assoziierungsabkommen unterzeichnet; auch hier spielt der Handel eine wichtige Rolle. Die Abkommen enthalten aber auch Zusagen über Reformen von Sicherheitspolitik über "gute Regierungsführung" bis hin zum Verbraucherschutz.
Dass die EU die drei Abkommen zum jetzigen Zeitpunkt, trotz der anhaltenden Spannungen mit Russland, abgeschlossen hat, ist ein starkes Zeichen, dass die EU die Westintegration dieser Länder fördert.
Van Rompuy und EU-Kommissionschef José Manuel Barroso betonten zwar, dass sich die Abkommen nicht gegen Russland richteten. Doch die erwartete Antwort aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten: Der russische Vize-Außenminister Grigory Karasin drohte mit "schwerwiegenden Konsequenzen", ein Sprecher von Präsident Putin kündigte "Maßnahmen" an, falls die Abkommen negative Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben sollten.
Putin arbeitet seit Langem an der Eurasischen Wirtschaftsunion aus Ex-Sowjetrepubliken, die 2015 mit Russland, Kasachstan und Weißrussland startet. Die EU sieht das locker und würde ihren Mitgliedsländern auch eine Teilnahme an der Eurasischen Union erlauben.