Wie die Türkei die NATO in Schach hält
Richtig laut war die Kritik der NATO nie: Im Jänner eröffnete die türkische Armee ihre Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG im Nordwesten Syriens. Damit riskierte der NATO-Staat mit der zweitgrößten Armee des westlichen Verteidigungsbündnisses gleich einen Konflikt mit den USA. Denn rund um die syrische Stadt Afrin hatte die größte Militärmacht der Welt bereits eigene Sondereinheiten stationiert – zur Unterstützung der mit den USA verbündeten Kurdenmilizen im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS).
Soldaten von zwei verbündeten NATO-Armeen plötzlich auf gegnerischen Seiten – „Das schafft das Potenzial für militärische Zusammenstöße mit den US-Spezialeinheiten“, schildert Türkei-Experte Marc Pierini dem KURIER. „Und indirekt schwächt die Türkei so die internationale Koalition gegen den IS, der sie ja auch angehört“, führt der ehemalige Botschafter der EU in der Türkei weiter aus. Für die Zeit nach den Wahlen Ende Juni hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gleich weitere Militäroffensiven jenseits seiner Landesgrenzen angekündigt.
Zurückhaltung der NATO
Und dennoch blieb der Tonfall im NATO-Hauptquartier bisher auffallend lau. Trotz des Eindringens in den Nachbarstaat Syrien wurde Ankara nur um „Zurückhaltung“ gebeten. Der Grund: Die NATO will ihren wichtigen, aber zunehmend schwierigen Partner Türkei nicht verprellen. Aufgrund seiner strategischen Lage, als eine Art Brückenkopf in den Nahen Osten, ist das Land für das Verteidigungsbündnis unverzichtbar. Übrig bleiben die Kurden, die im Kampf gegen den IS einmal mehr im Stich gelassen werden.
Russen im NATO-Land
Gleichwohl strapaziert Staatschef Erdoğan mit seinen Entscheidungen die Nerven der NATO immer öfter. So bescherte er mit der Bestellung eines S-400-Raketensystems ausgerechnet beim NATO-Erzrivalen Russland dem Militärbündnis ein gewaltiges Kuckucksei. Um die zwei Batterien von Luftabwehrraketen in Betrieb zu nehmen, müssten laut Pierini, der derzeit für den Think Tank Carnegie Europe tätig ist, „an die 200 russische Berater in Militärstützpunkten in Ankara sitzen. Das muss man sich einmal vorstellen: 200 russische Militärs im Herzen der zweitgrößten NATO-Streitmacht. Das wäre ein unglaublicher strategischer Sieg für Russland.“
Darüber hinaus müssten die Russen eine große Menge militärische Geheiminformationen erhalten. Denn nur so wäre gewährleistet, dass die Software der russischen S-400 die türkischen Kampfjets – amerikanische F-16-Modelle – überhaupt erkennt und nicht abschießt. Doch geheime Informationen und Daten mit Russland zu teilen, das ist für die NATO absolut undenkbar.
Verbieten kann die NATO ihrem Mitglied Türkei den Deal mit Moskau nicht. „Reden und überzeugen“, das sei die einzige Möglichkeit, sagt der langjährige und erfahrene Diplomat Pierini, der sich von Erdoğan in nächster Zukunft keinerlei Entgegenkommen erwartet. „Die Türkei wird undemokratisch bleiben, sie wird in der NATO weiter Probleme schaffen, aber sie wird auch weiterhin ein NATO-Mitglied bleiben.“
Denn einen Rauswurf aus der NATO, wie es ohnehin nur vereinzelte ultra-rechte Republikaner im US-Kongress fordern, ist in den Statuten der NATO nicht vorgesehen. „Außerdem würde man in der NATO ein Herauslösen der Türkei nur als einen Gewinn für Russland sehen“, glaubt Pierini.
„Russisches Spiel“
Die russischen Raketen und die anti-westliche Koalition der Türkei zusammen mit Russland und dem Iran in Syrien – „all das ist mehr ein russisches Spiel als ein türkisches“. Und so hofft man in der NATO, dass Erdoğan sehr wohl weiß, dass Russlands Präsident Putin die Türkei vorwiegend für seine eigenen Zwecke benutzt. Putins Ziel: einen Keil in die NATO treiben und das feindliche Militärbündnis so schwächen.
Griechenland im Visier
Aber auch ganz ohne Zutun Moskaus heizt die Führung in Ankara die Spannungen unter den NATO-Mitgliedern an. Griechenland gerät zunehmend ins Visier des türkischen Staatschefs. Luftraumverletzungen über der Ägäis durch türkische Militärmaschinen stehen an der Tagesordnung, gefährliche Zwischenfälle mit türkischen Kriegsschiffen sind zu beobachten, die militärischen Provokationen mehren sich rasant. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland, eigentlich militärische Verbündete in der NATO, verschlechterten sich zuletzt rapide. Heute ist die Stimmung zwischen den Nachbarn so schlecht wie schon seit 20 Jahren nicht mehr.
Pierini sieht einen klaren Zusammenhang zwischen den steigenden Spannungen und der bevorstehenden vorgezogenen türkischen Präsidentenwahl am 24. Juni. Diese Urnengänge sind für Erdoğan enorm wichtig. Dann gilt das neue Präsidialsystem, das die Macht des Präsidenten enorm erweitert. Mit Ach und Krach hatte Erdoğan im Vorjahr das dafür notwendige Referendum beim Volk durchgebracht.
„Um die Wahlen im Juni zu gewinnen, braucht Erdoğan auch viele Stimmen aus dem nationalistischen Lager“, meint der Ex-Botschafter, „und Vorfälle dieser Art dienen sehr wohl der Anstachelung dieser Wählerstimmen.“ Vorfälle wie die Kollision eines griechischen Patrouillenbootes mit einem türkischen Militärschiff Mitte Februar vor der Insel Imia: Videobilder zeigen deutlich, dass das Boot der türkischen Marine das hektisch ausweichende griechische Wasserfahrzeug nahezu ungebremst rammt.
Von der NATO-Führung hat Griechenland dennoch keine Hilfe zu erwarten. Im brandneuen Hauptquartier der Militärallianz in Brüssel setzt man „auf den Geist des gegenseitigen Vertrauens und der Solidarität“ unter den Mitgliedern. Und rechnet auch damit, dass die Provokationen der Türkei nach den Wahlen wieder deutlich abflauen könnten. Einmal mehr zeigt sich am Zögern des Militärbündnisses: An der strategischen Bedeutung der Türkei, ihrer Größe und ihrer Regionalmacht kommt die NATO nicht vorbei. Kleinere Kollateralschäden, selbst unter Mitgliedern, werden der Türkei stillschweigend nachgesehen,.
Keine Hilfe für Österreich
Österreich darf in dieser Konstellation schon gar nicht mit Unterstützung von der NATO-Führung rechnen. Seit nahezu zwei Jahren blockiert Ankara die Kooperationen Österreichs mit der NATO. Die Folge: Das Bundesheer ist ausgeschlossen von wichtigen Informationen und gemeinsamen Trainings, die für internationale Einsätze nötig sind. In der NATO findet dies zwar keinen Gefallen, wirkliche Bemühungen, die Türkei zur Beendigung ihrer Blockade zu bewegen aber gab es bisher nicht. Wegen des Nicht-NATO-Mitgliedes Österreich es sich mit dem NATO-Riesen Türkei verscherzen? Wohl eher nicht, ist hinter vorgehaltener Hand zu hören. So wird die Blockade Österreichs durch die Türkei bis auf Weiteres ein Problem bleiben.
Fazit Pierinis: „Die Türkei ist ein schwieriger Partner, er ist für seine Verbündeten nicht verlässlich.“ Ändern aber werde dies nichts an der jahrzehntealten türkischen Mitgliedschaft in der NATO. Wie angeknackst die Beziehungen zwischen dem Bündnis und Erdoğan auch sein mögen – die Türkei und die NATO haben derzeit keine andere Option, als damit klarzukommen.
Fakten zu Wahlen
Die Türkei wählt trotz des geltenden Ausnahmezustands das Parlament und den Präsidenten am 24. Juni neu. Damit gilt dann das von Staatschef Erdoğan erkämpfte neue Präsidialsystem, über das er im Vorjahr per Referendum abstimmen ließ. Die wichtigsten Änderungen:
- Präsident ist auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident ernennt und entlässt Minister, Vizepräsidenten, hohe Staatsbeamte. Kein Mitspracherecht des Parlaments.
- Dekrete. In Bereichen, die die Exekutive betreffen, kann der Präsident allein Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Sie werden unwirksam, wenn das Parlament zu dem Themenbereich ein Gesetz verabschiedet.
- Amtszeit. Der Präsiden darf zwei Mal fünf Jahre im Amt bleiben, gezählt wird aber erst ab dieser Wahl im Juni. Und: Beschließt das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen, kann er erneut kandidieren. Erdoğan könnte also theoretisch bis 2033 an der Macht bleiben.