Die Fehlerkette, die den Mord an Japans Premierminister ermöglichte
2,5 Sekunden - soviel Zeit verging zwischen dem ersten Schuss auf Shinzo Abe, der ihn verfehlte, und dem zweiten, tödlichen. Genug Zeit, um den japanischen Ex-Ministerpräsidenten zu retten, sagen japanische und internationale Sicherheitsexperten, mit denen Reuters sprach.
Nach dem Sichten vom Filmmaterial des Anschlags bewerten sie die Lage so: Leibwächter hätten den 67-Jährigen abschirmen oder aus der Schusslinie entfernen und ihm damit das Leben retten können. Dass das nicht gelang, sei die Folge einer Reihe von Sicherheitsmängeln.
Abe war am 8. Juli bei einer Wahlveranstaltung in der westjapanischen Stadt Nara niedergeschossen worden und Stunden später seinen Verletzungen erlegen. Die Tat sorgte in Japan - einem Land, in dem sowohl Waffenkriminalität als auch politische Gewalt äußerst selten sind - für Fassungslosigkeit. Die japanischen Behörden, darunter auch der Premierminister Fumio Kishida, räumten Sicherheitsmängel ein und die Polizei leitete Ermittlungen ein.
Reuters sprach mit Sicherheitsexperten sowie sechs Zeugen am Tatort und sichtete mehrere aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommene Videos, die online verfügbar waren. Die Aufnahmen zeigen, wie sich der Angreifer mit einer Waffe Abe ungehindert nähert, während der ehemalige Ministerpräsident eine Rede auf einer öffentlichen Straße hält.
Schwere Fehler der Leibwächter
„Die Leibwächter hätten sehen müssen, dass der Schütze ganz bewusst auf den Premierminister zuging, und sie hätten eingreifen sollen“, sagt Kenneth Bombace, Chef der Sicherheitsfirma Global Threat Solutions, die Joe Biden während dessen Zeit als Präsidentschaftskandidat schützte.
Der Angreifer kam Medienberichten zufolge vor dem ersten Schuss bis auf etwa sieben Meter an Abe heran. Den zweiten habe er dann aus etwa fünf Metern Entfernung abgegeben, berichtete die japanische Zeitung Yomiuri unter Berufung auf Ermittlungsquellen. Dem ehemaligen Navy SEAL- und CIA-Offizier John Soltys zufolge haben Abes Leibwächter anscheinend weder „konzentrische Sicherheitsringe“ um den Politiker herum gebildet noch die Menge überwacht.
Die Videoaufnahmen zeigen zudem, wie sich zwei Leibwächter zwischen Abe und den Schützen drängen, während zwei andere auf den Schützen zulaufen. Laut Mitsuru Fukuda, einem Professor für Krisenmanagement und Terrorismus, sei das die falsche Reaktion gewesen. Die Sicherheitskräfte hätten nach seiner Einschätzung Abe schützen sollen, statt den Angreifer zu verfolgen.
Kritik aus den USA
Das meint auch der ehemalige Polizeibeamte Yasuhiro Sasaki, ein pensionierter Spezialist für Personensicherheit. Es habe nicht genug Gefühl für Gefahr gegeben: „Alle waren überrascht und niemand ging dorthin, wo Abe war.“ Sonst wäre die Anzahl von vier Sicherheitskräften ausreichend gewesen, um das Attentat zu verhindern. Laut einem Mitglied des US-diplomatischen Sicherheitsdienstes hätte Abe einen eigenen Personenschützer haben müssen, der ihn in einer solchen Situation „am Gürtel und am Kragen packen, mit dem Körper abschirmen und wegbringen“ muss.
Auch der ehemalige Generalkommissar der Tokioter Polizei, Katsuhiko Ikeda, sagt, die Situation hätte sich ganz anders entwickelt, wenn Abes Sicherheitskräfte nahe genug gewesen wären, um ihn innerhalb von ein oder zwei Sekunden zu erreichen. Japans nationale Polizeibehörde, die die lokalen Polizeikräfte beaufsichtigt gibt Fehler zu: „Es gab Probleme auch bei der Art und Weise, wie die Polizei involviert war“, erklärte die Behörde auf Anfrage von Reuters, ohne Details zu nennen. Die für die Sicherheit bei Abes Wahlkampfaufenthalt zuständige Polizei von Nara sagte Reuters auf Anfrage, sie habe sich zu einer gründlichen Untersuchung der Sicherheitsprobleme im Zusammenhang mit Abes Tod verpflichtet, und lehnte einen weiteren Kommentar ab.