Politik/Ausland

"Kein Platz für uns im Orient"

Vor jeder Kirche in der Stadt haben sie Stellung bezogen: ein halbes Dutzend Männer jeweils, bewaffnet mit abgenutzten Maschinenpistolen, aber mit der Entschlossenheit, Karakosch nicht zu räumen. Die 50.000-Einwohner-Stadt im Norden des Irak wird seit Jahrtausenden fast ausschließlich von Christen bewohnt – wurde, denn vor wenigen Tagen hat jeder, der irgendwie auf die Füße kam, die Stadt verlassen. Die Kämpfer der ISIS, jener islamistischen Terror-Armee , die den Norden des Irak überrollt, näherten sich Karakosch und all den anderen Christengemeinden in der Gegend. Auf verstopften Straßen quälten sich Tausende Familien in die einzige Richtung, in der sich Christen im Irak derzeit Sicherheit erhoffen können: die autonomen Gebiete der Kurden.

Kein Wasser, kein Strom

Die gut ausgerüsteten kurdischen Peschmerga-Milizen haben auch rund um Karakosch den Kampf gegen die ISIS aufgenommen. Unter ihrem Schutz wagen sich viele Christen jetzt in ihre Heimatstadt zurück. Aussicht auf dauerhaften Frieden oder einen Alltag ohne ständige Bedrohung haben sie trotzdem nicht. "Die Menschen, aber auch ihre Priester rechnen ständig mit einer neuen Katastrophe", schildert Oliver Maksan – er berichtet für die Hilfsorganisation "Kirche in Not" aus dem Irak – die aktuelle Situation dem KURIER: "Die ISIS hat nicht nur gemordet. Sie hat vor allem die Infrastruktur gezielt zerstört. Mitten im glutheißen irakischen Sommer gibt es jetzt weder Wasser noch Strom."

Selbst in den Worten von Bischof Sako, als chaldäischer Patriarch von Bagdad einer der wichtigsten christlichen Kleriker im Irak, wird die Verzweiflung deutlich, die die ganze Christengemeinde erfasst hat:"Die Wellen des Hasses schlagen hoch und bedrohen uns. Die Regierung in Bagdad hat die Kontrolle über unsere Städte verloren."

Dieser Hass auf die Christen, der sich jetzt beim Vormarsch der ISIS blutig entlädt, ist über Jahre angewachsen. "Seit dem Einmarsch der Amerikaner 2003 ist die Lage für Christen immer gefährlicher geworden", beschreibt Pia de Simony von "Christian Solidarity International" die Stimmung. Sie hat viele Monate in den Christengemeinden und mit Bischof Sako verbracht, die tägliche Angst ums eigene Leben miterlebt: "Für radikale sunnitische Gruppen sind die Christen Freiwild." Überfälle auf christliche Familien, auf Kirchen oder auf Nonnen, die Sozialarbeit für die Opfer des Krieges leisten, gehören seit Jahren zum Alltag der schrumpfenden Minderheit. Lebten vor zehn Jahren noch mehr als eine Million Christen im Irak, so sind davon keine 400.000 mehr übrig geblieben.

Nonnen als Geisel

Und mit dem Vormarsch der ISIS-Kämpfer geraten die Christen noch mehr ins Visier. Als die ISIS die Millionenstadt Mossul überrollte, stürmten sie ein Waisenhaus und nahmen drei der Nonnen als Geiseln. Was aus ihnen geworden ist? Auch Oliver Maksan rechnet mit dem Schlimmsten. Denn Lösegeldforderungen haben die Islamisten noch keine gestellt, "man muss aber bedenken, wie finanzstark diese Terrorarmee ist. Die brauchen kein Geld für ihren Krieg."

Die Machtübernahme der ISIS ist nur der Schlusspunkt einer traurigen Entwicklung. Viele der Christengemeinden in Mossul, so schildert Pia de Simony ihre Eindrücke, seien vom Zerfall bedroht. Die meisten Bischöfe hätten die Stadt verlassen, seien gemeinsam mit den Gläubigen in die Kurdengebiete geflüchtet.

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Trotzdem wollen die Christen im Irak den Vormarsch der ISIS nicht allein als Religionskrieg sehen. Es gehe nicht nur um "Christenverfolgung", wiegelt Patriarch Sako alle Mutmaßungen in diese Richtungen ab: "Es sind viel mehr Muslime aus Mossul und Umgebung geflüchtet. Es ist die dunkelste Stunde für alle im Irak, nicht nur für die Christen."

Die Frage aber, die nicht nur den Bischof, sondern alle christlichen Kleriker quält, ist, ob es überhaupt eine Zukunft für ihre Gemeinden gibt. Im Irak, aber auch im Rest des Nahen Ostens, der erneut einer Katastrophe entgegentreibt.

Dass nun Saudi-Arabien angekündigt hat, 30.000 Mann an der Grenze zum Irak aufmarschieren zu lassen, macht nur noch einmal deutlich, wie sehr dieser Krieg längst keine Grenzen mehr kennt, und die ganze Region erfasst hat. Im blutigen Chaos, das Länder wie Syrien, aber auch den Libanon überzieht, sind Christen fast immer das schwächste Glied in der Kette.

Da können die christlichen Milizen, die vor den Kirchen von Karakosch Stellung bezogen haben, noch so laut betonen, dass sie keine Angst hätten, auch nicht vor der ISIS. An der bitteren Einsicht, dass es für sie keine Zukunft in einem zerfallenden und immer mehr von islamischen Fanatikern beherrschten Irak gibt, ändert vor allem für die Jüngeren nichts mehr. "Es gibt im Orient keinen Platz für uns Christen", resigniert eine junge Mutter, die mit ihren vier Kindern vor wenigen Tagen aus Mossul geflohen ist. Sie wolle nur noch in den Westen, egal wie, lieber heute als morgen: "Ich will nicht, dass meine Kinder in Angst aufwachsen."

Patriarch Sako sieht die Familien gehen. Er weiß, dass die Abwanderung weiter zunehmen wird – und dass damit jahrtausendealte Geschichte zu Ende zu gehen droht: "Wenn das christliche Leben im Irak endet, dann ist unsere Geschichte unterbrochen. Unsere Identität ist bedroht."