Politik/Ausland

Auf acht Zigaretten mit Helmut Schmidt

Am Anfang war ein Brief. „Schreiben Sie Herrn Schmidt einfach einen Brief“, sagte Rosemarie Niemeier, die langjährige Büroleiterin des deutschen Ex-Kanzlers, zur Interviewanfrage am Telefon, „er macht Termine nur per Post.“ Das war im Jänner 2010.

Einen Monat später waren am Ende eines eineinhalbstündigen Gesprächs mit Helmut Schmidt acht Mentholzigaretten der Marke „Reyno“ geraucht (nur von ihm) und ein paar Prisen Schnupftabak genommen (auch von ihm) – und der Interviewer im bescheidenen Büro des Herausgebers der Hamburger Zeit war, wie erwartet, schwer beeindruckt: Was für ein brillanter Denker und Formulierer dieser Helmut Schmidt doch war, auch und erst recht im hohen Alter.

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„Moment, ich habe kein Wort verstanden“, hatte Schmidt noch auf die erste Frage gesagt, „dieser Lautsprecher im Ohr erlaubt mir, die Hälfte von dem zu hören, was Sie sagen, die andere Hälfte muss ich kombinieren ... Der Computer hier in meinem Kopf ist vom lieben Gott und nicht von Siemens, das heißt, der arbeitet langsam.“ Heute, Sonntag, wäre Helmut Schmidt 100 Jahre alt geworden.

Eine Begegnung mit „Schmidt-Schnauze“, wie Freund und Feind ihn nannten, war nicht nur für Journalisten ein beeindruckendes Erlebnis. Wenn sie das Glück hatten. Einer seiner Nachfolger als SPD-Chef, Sigmar Gabriel, erzählte, dass er einmal seine Frau zur „Audienz“ beim Altvorderen mitnahm. „Wir waren beim lieben Gott“ sagte sie danach. Das Ritual war immer ähnlich: Eine Höflichkeitsfrage an den Gast, dann dozierte Schmidt von Amerika bis China, von Währungs- bis Sozialpolitik – und alles war auf den Punkt.

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Richtiger Kanzler in falscher Partei

„Ist Euch in Wien eigentlich klar, dass es Euch besser geht als den allermeisten anderen in Europa?“, fragte Schmidt zu Beginn des KURIER-Interviews ein Jahr nach Ausbruch der großen Finanzkrise, um dann über Banken, Sozialstaat und Geburtenrate in Österreich zu referieren. „Wie hoch ist Euer Renten-Antrittsalter?“ – 65, real weniger – „Das ist ja noch niedriger, als bei uns, das ist furchtbar. Auch 65 reicht nicht, das ist ganz zwangsläufig“, sprach der Sozialdemokrat, den der politische Gegner Zeit seiner Kanzlerschaft (1974-82) als „richtigen Kanzler in der falschen Partei“ bezeichnete. Zu oft hatte Schmidt seinen Genossen gegen den Strich gebürstet.

Den Deutschen zum Held wurde Schmidt im Jahr 1962, als er als Hamburger Innensenator bei der verheerenden Sturmflut eigenmächtig die Bundeswehr herbei beorderte und Schlimmeres als „nur“ 300 Tote verhinderte. Der Weg ins Kanzleramt war nicht vorgezeichnet, erfolgte für den Verteidigungs- und später Finanzminister aber nach dem Rücktritt Willy Brandts wegen dessen Spionage-Affäre. Der Konflikt zwischen den beiden währte bis zu Brandts Tod – da der Sozialist und SPD-Urgestein, dort der Pragmatiker und kühle Kopf. „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, sagte Schmidt einmal zu den Wahlkampf-Visionen Brandts.

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Ölkrise, Terror, Kalter Krieg

Dem Autor dieser Zeilen, selbst mit Hamburger Wurzeln, war Schmidts hanseatisches Idiom nie fremd. Als er sich 1974 als Bub über den WM-Titel der deutschen Fußballer freute, war Schmidt gerade Kanzler geworden. Er regierte in keiner leichten Zeit: Ölkrise, RAF-Terror, Kalter KriegBonn (damals) lief im ständigen Krisenmodus. Dass er den Entführern des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer nicht nachgab, um Regierungen nicht erpressbar zu machen, und der ermordet wurde, nagte an Schmidt bis zum Lebensende. Aber die Entscheidung hielt er für richtig. Auch die zum Nato-Doppelbeschluss – die Aufstellung von Raketen läutete den Anfang vom Ende der UdSSR ein – kostete Schmidt zwar allen Kredit in der SPD, erwies sich aber als weitsichtig.

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1982 wechselte sein Koalitionspartner FDP fliegend zur CDU, Schmidt beendete seine politische Karriere. Fortan und im Alter immer öfter trat er als Mahner und Wegweiser auf – niemals auch nur vom leisesten Selbstzweifel an der eigenen Analyse angekränkelt. Schon in seiner aktiven Zeit war Schmidt für seine druckreifen Formulierungen, aber auch für seine Selbstverliebtheit bekannt. Anders als heute so manch Ich-AG in der Politik konnte er sich das leisten. Medien verachtete Schmidt vermutlich so wie sein Vorgänger (Brandt: „Journalisten sind Nebenprodukte der holzverarbeitenden Industrie“), nutzte sie aber, ihnen und der Welt die Welt zu erklären. Lange Innehalte-Pausen in den Zigarettenqualm hinein inklusive.

„Kultureller Unterschied zu groß“

Schmidt sprach im KURIER-Interview u. a. über Populismus („Direkte Demokratie zwingt dazu, komplizierte Probleme auf einfache Formeln zu bringen, die man mit Ja oder Nein beantworten muss. Das Leben ist nicht so einfach. Populisten finden das wunderbar, zu sagen ,Nein, wir sind dagegen’“). Er sprach über Nahost („Rundherum stehen westliche Soldaten auf dem Boden, der von muslimischen Gläubigen bewohnt wird“). Und er warnte lange vor der Flüchtlingskrise: Es sei „unwahrscheinlich, dass man mit islamischen Minderheiten wirklich zusammenleben kann in einer Gesellschaft, die überwiegend nicht islamisch ist. Der kulturelle Unterschied ist zu groß“.

China, das er Schina aussprach, so wie er spitze Steine sagte, war eines seiner Lieblings-Themen in Büchern und Gesprächen („Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“ war in der Zeit eine regelmäßige Interview-Strecke).

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Das langfristig Notwendige im Blick

Zur Demokratie befand Schmidt im Februar 2010, es sei ihr Wesen, „dass man gewählt wird nicht weil die Leute einen mögen, sondern man muss einigermaßen angenehm sein für die Leute. Das verleitet dazu, dem Volk nach dem Mund zu reden. Das ist einer der Fehler der Demokratie, den man liebend mit umfassen muss“. Aber: „Es zeichnet politische Führer wie Churchill, de Gaulle oder Adenauer aus, dass sie nicht nur die nächste Wahl, sondern auch das langfristige Notwendige im Blick haben“, schrieb Schmidt in seinem letzten Buch „Was ich noch sagen wollte“. Und er sah sich in genau dieser Reihe.

Und welche Persönlichkeiten in Österreich haben ihn fasziniert? Kreisky, Vranitzky, Androsch „und (Kardinal) Franz König, der für mich eine Art menschliche Autorität war“, sagte Schmidt und dämpfte die letzte Zigarette (während dieses Gesprächs) aus. Der Raucher aus Leidenschaft, der bis zuletzt selbst in TV-Sendungen pofeln durfte, starb im November 2015 im Alter von fast 97 Jahren.