Kapitulation: Russland vermeldet "vollständige Befreiung" Mariupols
Tag 85 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Das ukrainische Militär hat die verbleibenden Kämpfer des Asow-Regiments im Mariupoler Industriekomplex Asow-Stahl laut dessen Anführer angewiesen, die Verteidigung der Stadt aufzugeben. Die Militärführung habe den Befehl gegeben, "das Leben der Soldaten unserer Garnison zu retten und aufzuhören, die Stadt zu verteidigen", sagte der Asow-Kommandeur Denys Prokopenko in einem heute veröffentlichten Video. Es werde nun daran gearbeitet, die gefallenen Soldaten aus der Anlage zu bringen. Alle Verwundeten seien evakuiert worden und nur die "getöteten Helden" geblieben, sagte der Kommandeur.
Am Freitagabend vermeldete die russische Armee einem Medienbericht zufolge schließlich die "vollständige Befreiung" des seit Wochen belagerten Stahlwerks. Das Verteidigungsministerium in Moskau habe dies bekanntgegeben, berichtete die Nachrichtenagentur RIA. Demnach haben sich die letzten 531 Verteidiger des Regiments Asow ergeben. Die Angaben können von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.
Russland hatte bereits im April nach wochenlanger Belagerung erklärt, die Kontrolle über Mariupol übernommen zu haben. Allerdings hatten sich ukrainische Soldaten im Tunnelsystem unter dem riesigen Industriekomplex von Asow-Stahl verschanzt, wo sie von russischen Truppen weiter belagert wurden.
Kiew hofft auf Gefangenenaustausch
Diese Woche hatten die dort verbliebenen Kämpfer des Asow-Regiments begonnen, sich zu ergeben. Nach russischen Angaben kamen bis Freitag mehr als 2.400 ukrainische Kämpfer aus dem Werk und wurden gefangen genommen. Die ukrainische Regierung hofft auf die Befreiung der Soldaten aus dem Stahlwerk im Rahmen eines Gefangenenaustauschs. Die russischen Behörden haben jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass sie zumindest einen Teil von ihnen nicht als Soldaten, sondern als neonazistische Kämpfer betrachten.
Die vollständige Einnahme Mariupols wäre für Moskau ein strategischer Erfolg. Dem ukrainischen Generalstab zufolge hat der erbitterte Widerstand in der Hafenstadt den Vormarsch der russischen Streitkräfte auf die Großstadt Saporischschja, die sich nach wie vor in ukrainischer Hand befindet, entscheidend verlangsamt.
Militärexperte rechnet nicht mit Austausch der Kämpfer aus dem Stahlwerk
Der Militärexperte Carlo Masala rechnet nicht mit einem Austausch der gefangenen ukrainischen Kämpfer aus dem Stahlwerk von Mariupol. Zumindest ein Teil der mehr als 1700 Männer werde voraussichtlich zu Propagandazwecken missbraucht werden, sagt der Politikprofessor der Bundeswehruniversität München im Stern-Podcast "Ukraine – die Lage". "Man wird sie nicht austauschen, das glaube ich nicht. Sondern man wird ihnen vielleicht den Prozess machen, sie foltern, sie vor die Fernsehkamera zerren", so Masala. Erpresste Geständnisse der Gefangenen könnten genutzt werden, um "letzten Endes der russischen Bevölkerung zu suggerieren, dass dieser Staat – die Ukraine – ein Nazi-Staat ist. Und damit die Legitimation weiterhin aufrechterhalten für die Operation der russischen Föderation."
Konzentration auf Osten
Nachdem der ursprüngliche Plan des Kremls, die Ukraine in wenigen Tagen einzunehmen, nicht aufging, änderte Russland seine Taktik und konzentrierte sich fortan auf den Osten des Landes. Seit Wochen versucht die Regierung in Moskau, mit massiver Artillerie- und Panzerunterstützung Gebiete im Donbass zu erobern. Dort kontrollierten prorussische Separatisten bereits seit 2014 Teile der Gebiete Donezk und Luhansk.
Nun hat Russland nach Angaben des ukrainischen Generalstabs seine Offensive im Osten weiter verstärkt und setzt Artillerie, Raketenwerfer und Flugzeuge ein, um die Verteidigungsanlagen rund um Donezk zu beschädigen.
Nach Einschätzung britischer Geheimdienste riskiert Moskau nach den aufreibenden Gefechten in Mariupol damit eine Zermürbung seiner Streitkräfte. Der ukrainische Widerstand in der Hafenstadt Mariupol seit Beginn des Krieges habe die russischen Truppen enorm geschwächt, hieß es am Freitag früh in einem Lagebericht des britischen Verteidigungsministeriums.
Der Wiederaufbau und die Neuausstattung der Streitkräfte könne sich, wenn man ihn sorgfältig durchführe, länger hinziehen, so die Briten. Da russische Kommandeure jedoch stark unter Druck stünden, sichtbare Erfolge zu erreichen, sei es wahrscheinlich, dass Moskau seine Truppen ohne angemessene Vorbereitung in seine Offensive in der Donbass-Region schicke. Dies riskiere, die Soldaten weiter zu zermürben.
Neue Altersgrenze für russische Soldaten?
Die russische Staatsduma erwägt eine Heraufsetzung der Altersbegrenzung von Soldaten auf über 40 Jahre. Zudem sollen sich Ausländer auch im Alter von über 30 künftig zum Militärdienst melden können, wie aus einem Entwurf für das Parlament auf dessen Internetseite hervorgeht.
Damit würde das Militär ältere professionelle Personen rekrutieren können, heißt es zur Begründung. Bislang dürfen sich Russen im Alter von 18 bis 40 und Ausländer von 18 bis 30 Jahren für das Militär melden.
Donbass "völlig zerstört"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij hat die Situation im Donbass angesichts des russischen Angriffskriegs als "Hölle" bezeichnet. Die Armee arbeite weiter an der Befreiung der Region Charkiw, sagte Selenskij in seiner abendlichen Videoansprache. "Aber im Donbass versuchen die Besatzer, den Druck zu erhöhen. Da ist die Hölle, und das ist keine Übertreibung", so der Präsident weiter. "Der Donbass ist völlig zerstört."
Bei russischem Beschuss in Luhansk seien in den vergangenen 24 Stunden 13 Zivilisten getötet worden, teilte der ukrainische Gouverneur der Region, Serhij Gaidai, mit. Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft wurden seit Beginn der russischen Invasion 232 Kinder getötet und 427 verwundet. Russland bestreitet die Berichte von ukrainischer und westlicher Seite, gezielt auch zivile Gebäude und Zivilisten ins Visier zu nehmen.
Massaker in Butscha: Neue Beweise
Der New York Times liegen neue Beweise für die Massaker im Kiewer Vorort Butscha am 4. März vor. Auf Videos ist zu sehen wie zumindest acht Männer hingerichtet wurden.
Zum Zeitpunkt des Angriffs auf den familienfreundlichen Vorort von Kiew hielten sich etwa 4.000 Bewohner dort auf. Ab dem 27. Februar, also drei Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine beschossen die Russen die Stadt.
Die Massaker von Butscha werden als die schwersten Kriegsverbrechen in diesem blutigen Krieg bezeichnet. Zumindest zehn russische Soldaten, die daran beteiligt waren, sind namentlich bekannt.
Auf dem Videoist zu sehen wie russischen Soldaten geduckt gehende Männer mit vorgehaltener Waffe über eine Straße treiben. "Die Geiseln sind hier, an der Mauer", sagt dann ein Mann, der das Video aufnimmt. Wie mehrere Zeugen der New York Times berichten, wurden die Gefangenen anschließend in ein Haus gebracht, später waren Schüsse zu hören. Ein Drohnenvideo, das einen Tag später aufgenommen wurde, zeigt dann mehrere Leichen in der Nähe des Gebäudes. Ein Toter war mit einem auffällig blauen Hemd bekleidet, wie zuvor einer der Gefangenen, der durch Butscha getrieben wurde.
Russland wird immer eine Gefahr darstellen
Die Ukraine werde ihre Unabhängigkeit verteidigen können, das benachbarte Russland werde aber immer eine Gefahr darstellen, so Selenskij . "Wir werden immer an Schutz denken. Und wir müssen verstehen, dass es keine bessere Sicherheit gibt als die Bereitschaft der Bürger, ihren eigenen Staat zu verteidigen", sagte Selenskij am Donnerstag in einer Online-Konferenz mit Studierenden und Hochschulleitungen.
Die ukrainische Gesellschaft habe ihre Widerstandsfähigkeit seit dem russischen Angriff vom 24. Februar bewiesen. Aber das Land brauche auch Sicherheitsgarantien von außen. Diese müssten als politisches Instrument gut durchdacht und auf Jahrzehnte angelegt sein. "Wir müssen verstehen, dass Russland immer da sein wird. Und vielleicht immer eine Bedrohung sein wird", sagte der ukrainische Präsident.
An der Flucht gehindert?
Unterdessen behindern im Gebiet Saporischschja im Süden der Ukraine die russischen Besatzungstruppen angeblich die Flucht von Zivilisten auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet. "Derzeit befinden sich in der Stadt Wassyliwka vor dem russischen Checkpoint mehr als 1.000 Fahrzeuge, die nicht auf das von der Ukraine kontrollierte Gebiet gelassen werden", sagte die Vizechefin der Gebietsverwaltung von Saporischschja, Slata Nekrassowa, der Nachrichtenagentur Ukrinform am Donnerstagabend. In sozialen Netzwerken sind inzwischen auch entsprechende Videos aufgetaucht.
In den Autos seien auch viele Frauen und Kinder. Beamte ihrer Verwaltung hätten daher veranlasst, den Flüchtlingen Wasser und Proviant zu liefern, erklärte Nekrassowa. Die Ukraine hat den russischen Truppen in der Vergangenheit mehrfach vorgeworfen, Zivilisten in den besetzten Gebieten an der Flucht zu hindern und sie teilweise gewaltsam nach Russland zu verschleppen.
Fünf Milliarden Euro Budgetloch im Monat
Für die Ukraine bedeute der russische Angriffskrieg jeden Monat ein Haushaltsloch von etwa fünf Milliarden US-Dollar (4,8 Milliarden Euro). "Um im Krieg um die Freiheit bestehen zu können, brauchen wir schnelle und ausreichende finanzielle Unterstützung", so Selenskij .
Die ausländischen Partner der Ukraine sollten Hilfen nicht als Ausgaben oder Geschenke sehen. "Das ist ihr Beitrag zu ihrer eigenen Sicherheit." Die Ukraine schützt andere Länder vor dem Krieg. Gemeinsam müsse Sorge getragen werden, dass Russland mit seiner Aggression keinen Erfolg habe.
Die Ukraine kann ihren Abwehrkampf gegen Russland mit neuen milliardenschweren Hilfen aus den USA fortführen. Gut eine Woche nach dem Repräsentantenhaus verabschiedete am Donnerstag auch die andere Kongresskammer, der Senat, mit großer Mehrheit das Paket mit einem Volumen von fast 40 Milliarden Dollar (38 Milliarden Euro). Sechs Milliarden Dollar sind für direkte militärische Hilfe für die Ukraine vorgesehen, die von Russland vor fast drei Monaten angegriffen wurde. US-Präsident Joe Biden muss das Gesetzespaket noch unterzeichnen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat vorgeschlagen, künftige Wiederaufbauhilfen für die Ukraine angesichts des EU-Beitrittswunsches des Landes an Reformen zu koppeln. „Wir werden sowieso den Wiederaufbau der Ukraine mitfinanzieren müssen“, sagte von der Leyen am Donnerstag in der ZDF-Sendung maybrit illner.
Dann sei es ihrer Ansicht nach sinnvoll zu sagen: „Ja zu Investitionen, aber gleich mit den notwendigen Reformen, zum Beispiel gegen Korruption oder zum Beispiel für den Aufbau der Rechtsstaatlichkeit.“