Brexit, oder was? Alles ist möglich im Londoner Chaos
Von Konrad Kramar
Vonkonrad kramarDas Getändel erinnerte eher an einen Debütantinnenball als an eine politische Debatte inmitten einer ausgewachsenen Staatskrise. Heute, Samstag, entscheidet sich im Londoner Unterhaus, wie es mit der europäischen Zukunft Großbritanniens weitergeht: Brexit, jetzt oder später, hart oder sanft?
Anstatt dass sich klare Fronten zwischen „Ja“ und „Nein“ zu dem von Premier Boris Johnson ausgehandelten EU-Austrittsdeal abzeichneten, wurde die Lage im Londoner Unterhaus am Freitag von Stunde zu Stunde unübersichtlicher. Da wechselten Abgeordnete der Labour-Opposition ins Regierungslager, um dann wieder von ihrem Parteichef Corbyn mit offenen Drohungen zurückgepfiffen zu werden. Zugleich ließen sich die eisernsten EU-Gegner unter den Konservativen plötzlich von Premier Boris Johnson dazu überreden, doch für seinen Deal zu stimmen – allerdings nur unter lautstark vor der Öffentlichkeit abgesonderten Bedenken über einen drohenden Kniefall vor der bösen EU.
Gegner laufen über
Und um das politische Theater endgültig ins Absurde abgleiten zu lassen, brach ausgerechnet bei jenen Abgeordneten, die noch vor Wochen Boris Johnsons erbittertste Gegner gewesen, ja wegen ihm sogar aus der Partei ausgetreten waren, ein Streit aus: Sollte man nun doch den Premier unterstützen oder ihn mit seinem Deal einfach auflaufen lassen? Die Angst, die bei diesen Pro-Europäern allerdings weiter umgeht, ist die vor einem No-Deal-Brexit am 31. Oktober. Denn auch der ist in diesen entscheidenden Tagen in London noch lange nicht vom Tisch.
Was etwa, fragen sich politische Beobachter, wenn Boris Johnson heute verliert? Eigentlich müsste der Premier dann in Brüssel um eine weitere Verschiebung des EU-Austritts ansuchen. Ob er das tatsächlich tun wird, hat Johnson bis zuletzt offengelassen. Da inzwischen die Zeit derart drängt – es sind nur noch zwölf Tage bis zum Austrittstermin – könnte schon jede Verzögerung aufgrund irgendwelcher formaler Detailfragen den No-Deal-Brexit auslösen.
Und formale Detailfragen lauern im unübersichtlichen, über Jahrhunderte gewachsenen Regelwerk des britischen Parlaments an jeder Ecke. Dazu kommt, dass auch in der EU nicht klar ist, ob man ein Ansuchen um Verlängerung auch annähme.
Misstrauensantrag?
Eine weitere Finte, die Johnson spielen könnte, wäre das Nein zu seinem EU-Austrittsdeal als Misstrauensvotum zu nehmen und zurückzutreten. Die Opposition, die dann am Zug wäre, müsste sich auf einen Nachfolger einigen. Dass ihr das gelingt, ist unwahrscheinlich. Neuwahlen wären dann schneller eingeleitet als es vielen – vor allem bei der Labour-Opposition – lieb wäre. Johnson hätte sich nämlich damit aus dem Spiel genommen und müsste nicht mehr selbst um die Verlängerung in Brüssel ansuchen.
Da sich schon vorab Uneinigkeit darüber abzeichnet, wer ihn dabei vertreten könnte, tut sich eine weitere Tür in Richtung No-Deal auf. Schließlich ist Großbritannien ohne Ansuchen auf Verlängerung am 31. draußen. Boris Johnson weiß um all diese Unsicherheiten und er weiß auch, dass gerade die ihm weitere „Ja“-Stimmen für seinen Deal zutreibt. Also warb der Premier gestern rund um die Uhr dafür. Er selbst nannte es: „Ich verkaufe eine Chance.“