"Muslimbrüder haben Gewalt geschürt"
Die Gesellschaft ist weiterhin gespalten. Dennoch versuchte sich die Hauptstadt Ägyptens am Mittwoch von den Strapazen der vergangenen Tage zu erholen. Auch im Protestcamp der Muslimbrüder bei der Raba-al-Adawija-Moschee im Osten von Kairo wurde friedlich der Ramadan begonnen. Zunächst schien es, als ob zumindest ein wenig Spannung aus der politischen Krise genommen wurde. Immerhin hatte der Übergangspremier Hazem al-Beblawi den Muslimbrüdern die Hand gereicht und sie aufgefordert, an einer interimistischen Regierung mitzuarbeiten, ihnen mehrere Kabinettsposten angeboten.
Doch die Fronten blieben auch am Mittwoch verhärtet – die Muslimbrüder schmetterten wenig später das Angebot zurück. „Wir wollen nichts mit einer Regierung zu tun haben, die aus einem Militärputsch hervorgegangen ist“, sagte ein Vertreter der Muslimbrüder-Partei Freiheit und Gerechtigkeit.
Zudem hat die Staatsanwaltschaft am Mittwoch Haftbefehle gegen leitende Figuren der Muslimbruderschaft erlassen. Darunter auch deren Chef, Mohammed Badie. Von seiner Verhaftung war bereits vor einigen Tagen berichtet worden, was sich aber als Falschmeldung entpuppte. Ihm und den anderen hohen Funktionären wird nun vorgeworfen, dass sie vor den Zusammenstößen vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde in Kairo, bei denen am Montagmorgen 53 Menschen getötet worden waren, die Demonstranten zur Gewalt angestiftet hätten. Mehrere Personen aus der Führungsebene der Muslimbrüder sind bereits vor einer Woche festgenommen worden. Sie sollen vom Militär ohne Anklage an einem unbekannten Ort festgehalten werden.
„Mursi würdevoll behandelt“
Auch gegen Ex-Präsident Mohammed Mursi gibt es weiter noch keine Anklage. Ob er tatsächlich – wie vermutet – im Hauptquartier der Garde in einem Vorort von Kairo festgehalten wird, ist nicht geklärt. Doch das interimistische Außenministerium stellte am Mittwoch klar, dass sich Mursi „zu seinem eigenen Schutz“ an einem „sicheren Ort“ befinde und dort „würdevoll behandelt“ werde. Ein gerichtliches Verfahren gebe es nicht, erklärte ein Sprecher des Ministeriums gegenüber Journalisten.
Wie Al Jazeera am Mittwoch berichtete, soll die USA beim Sturz von Präsident Mursi eine wichtige Rolle gespielt haben. Demnach soll Washington über eine Arbeitsgruppe im Außenministerium heimlich Figuren in der ägyptischen Opposition finanziell unterstützt haben, die sich für die Ablöse Mursis stark gemacht haben. Das Programm wurde als „Beistand für die Demokratie im Nahen Osten“ bezeichnet. Doch in diesem Fall könnte es zum Sturz des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens beigetragen haben.
Welche Rolle spielen die Salafisten?
Die Salafistenpartei, die bei den Parlamentswahlen 2011 mit 28 Prozent die zweitstärkste Kraft bildete, hat seither an Zustimmung verloren. Ihre Wähler merkten, dass auch die Salafisten vor Skandalen nicht gefeit sind, dass auch sie Versprechen brechen und ihren Werten nicht immer treu bleiben. „Sie suchen jetzt eine Mittlerposition, wollen aus der Situation profitieren“, glaubt Ägypten-Experte Asiem El Difraoui. (Sein Buch „Ein neues Ägypten. Reise durch ein Land im Umbruch“ erscheint im Herbst, Anm.) Sie schwenkten in den vergangenen Tagen zwischen dem Plan der Armee und den protestierenden Islamisten. Sie wollen offenbar eine Rolle als Königsmacher einnehmen. „Ein Schulterschluss mit den Muslimbrüdern scheint nicht sehr wahrscheinlich, sie wollen ihre eigene Position vertreten.“
Was wird aus den Muslimbrüdern?
Könnten sie eine kommende Wahl gewinnen? Wenn die Muslimbrüder an der Wahl teilnehmen, könnten sie durchaus ein starkes Ergebnis liefern, glaubt El Difraoui. Eine absolute Mehrheit sei aber nicht zu erwarten. „Viel größer ist aber das Risiko, dass sie nicht teilnehmen“, sagt der Ägypten-Experte. Denn viele Mitglieder sind von der „Demokratie“ enttäuscht. Bei einem Boykott der Muslimbrüder wäre ein entscheidender Teil der Bevölkerung am demokratischen Prozess nicht beteiligt, so könne es nicht zu einer Besserung kommen. „Keiner kann das Land alleine regieren“, sagt El Difraoui.
Versucht das Militär jetzt, die Muslimbrüder zu unterdrücken?
„Die Armee übt zwar massiv Druck auf die Führung der Bruderschaft aus – auch durch Verhaftungen“, sagt El Difraoui. Auf totale Unterdrückung setze sie aber nicht. Hinter den Kulissen werden vermutlich Treffen abgehalten, auch mit Mursi.
Auch nach dem Putsch haben die Generäle die Muslimbrüder als „legitime politische Kraft“ bezeichnet und warnten vor Verfolgung und Massenverhaftungen. Für die Legitimation einer neuen Regierung ist es wichtig, zu verhindern, dass die Muslimbrüder wieder in den Untergrund verschwinden.
Wie geht es in Ägypten weiter?
Übergangspräsident Adly Mansour stellte seinen Fahrplan für die Zukunft Ägyptens vor: In 15 Tagen soll die vom Militär ausgesetzte Verfassung angepasst und mit in einem Referendum abgesegnet werden. Parlamentswahlen sollen spätestens im Februar stattfinden, um eine weitere Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten. Danach die Präsidentenwahl. Doch noch am Dienstag wiesen sowohl die Muslimbrüder den Fahrplan zurück, als auch die Bewegung Tamarod, die die Proteste organisiert hatte, die zum Sturz Mursis führten. An einen friedlichen Urnengang glauben ohnehin wenige.
Droht dem Land ein Bürgerkrieg?
Asiem El Difraoui glaubt zwar nicht an einen bevorstehenden Bürgerkrieg, doch es bestehe eine Gefahr von Radikalen oder Milizen, wenn die Islamisten nicht in die Regierungsfindung einbezogen werden. „Eine Spirale der Gewalt könnte den Staatsapparat weiter aufweichen“, sagt er zum KURIER. Es sei durchaus möglich, dass Ägypten unregierbar werde oder die Bevölkerung sich von Populismus hinreißen lasse, einen „starken Mann“ herbeisehne, was zu einer neuen Diktatur unterschiedlichster Richtung führen könnte. Deshalb sei es so wichtig, schnell Stabilität zu finden.