Muslimbrüder warnen vor "Bürgerkrieg"
In Kairo ist der Konflikt zwischen Muslimbrüdern und ihren Gegnern eskaliert. Beim Protest vor dem Sitz der Republikanischen Garde wurden Dutzende Anhänger der Muslimbruderschaft und mehrere Soldaten getötet. Den Islamisten zufolge hätten die Soldaten gezielt in die Menge geschossen, um so eine Sitzblockade der Protestierenden zu beenden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden dabei mehr als 50 Menschen getötet, darunter auch Frauen und Kinder. Ärzte in den Krankenhäusern der Umgebung sprachen außerdem von über 300 Verletzten.
Über den Hergang des Geschehens gibt es allerdings widersprüchliche Angaben: Augenzeugen zufolge eröffnete die Armee das Feuer, als einige der Demonstranten vor dem Sitz der Republikanischen Garde gebetet hatten. Zuvor hatte es in Kairo Gerüchte gegeben, dass sich der vom Militär gestürzte Präsident Mohammed Mursi dort aufhalten könnte. Die Armee berichtete im staatlichen Fernsehen hingegen von einem Angriff einer "terroristischen Gruppe" auf das Gebäude. Die Armee nahm nach eigenen Angaben etwa 200 Bewaffnete fest. Sie hätten unter anderem Schusswaffen und Brandsätze bei sich gehabt, hieß es in einer Stellungnahme.
Untersuchung angeordnet
Der ägyptische Übergangspräsident Adli Mansur (siehe unten) hat eine Untersuchung der tödlichen Zusammenstöße angeordnet. Mansur habe eine Kommission eingesetzt, welche die "Zwischenfälle" vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde untersuchen solle, berichtete das Staatsfernsehen.
Die ägyptische Justiz ordnete zugleich am Montag die Schließung der Zentrale der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit an. In dem Gebäude in der Hauptstadt Kairo seien Messer, brennbare Flüssigkeit und andere Waffen gefunden worden, die gegen Demonstranten eingesetzt werden sollten, erklärte ein Vertreter der Sicherheitskräfte am Montag. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit ist der politische Arm der islamistischen Muslimbruderschaft.
Muslimbrüder warnen vor Bürgerkrieg
Der Anführer der Muslimbrüder, Mohammed Badi, erhob schwere Vorwürfe gegen die Armee - die Streitkräfte würden Verhältnisse wie in Syrien herbeiführen wollen, wo bekanntlich seit mehr als zwei Jahren ein blutiger Bürgerkrieg tobt. Die tödlichen Schüsse auf Zivilisten am Morgen verurteilten die Muslimbrüder als "fürchterliches Verbrechen".
Die Muslimbrüder demonstrieren seit Tagen gegen die vom Militär erzwungene Absetzung von Präsident Mursi. Als Reaktion auf die neue Gewalt riefen sie nun zum "Aufstand" auf. Das gewaltsame Eingreifen der Armee hat auch Auswirkungen auf die ohnehin schwierige Regierungsbildung. So zog sich die salafistische Al-Nur-Partei aus den Gesprächen über die Bildung einer Übergangsregierung zurück - ohne sie vollends aufzugeben.
EU stellt Hilfszahlungen infrage
"Wir verurteilen und bedauern die Gewalt. Wir erwarten, dass der politische Prozess auf friedlichem Wege fortgeführt wird", fuhr Ashtons Sprecher fort. "Zum gegebenen Zeitpunkt" könne dafür auch eine "politische Mission" der EU nach Kairo entsandt werden.
Die Brüsseler Finanzhilfen fließen den Angaben zufolge nicht direkt ins ägyptische Staatsbudget, da Kairo die erwarteten Reformfortschritte bisher vermissen lässt. Stattdessen würden Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen unterstützt. Für den Zeitraum 2012 bis 2013 sind in der EU-Finanzplanung fast fünf Milliarden Euro an Darlehen und Zuschüssen vorgesehen.
Technokrat wird Übergangspremier
Am Sonntag wurde bekannt, dass ein Technokrat die Übergangsregierung anführen soll. Ein Berater Mansurs sagte am Sonntagabend dem Fernsehsender ONTV, dass der Wirtschaftsjurist Siad Bahaa al-Din "sehr wahrscheinlich" zum Chef einer Übergangsregierung ernannt werde. Darauf hätten sich die Gruppierungen, die hinter der Entmachtung von Staatschef Mohammed Mursi durch das Militär stehen, geeinigt.
Zuvor war der liberale Politiker und Friedensnobelpreisträger Mohammed El Baradei als Favorit für den Posten des Übergangsregierungschefs gehandelt worden.
Dieser könne nun zum Stellvertreter von Übergangspräsident Mansur (nach anderen Berichten zu Al-Dins Stellvertreter) ernannt werden. Für die beiden Personalvorschläge werde eine breite Unterstützung gesehen.
Salafisten-Veto
In einem ersten Versuch hatte Mansur am Samstag versucht, El Baradei als Interims-Ministerpräsident zu benennen. Das scheiterte an der einflussreichen, salafistischen Nur-Partei, die mit den moderater islamistischen Muslimbrüdern des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi rivalisiert. Mursi war am Mittwoch von den Streitkräften abgesetzt worden.
Der 48-jährige Al-Din ist der Sohn eines bekannten Anwalts und hat für verschiedene Unternehmen gearbeitet, unter anderem in Washington. 1997 wurde er Berater im ägyptischen Wirtschaftsministerium. Er war zurückgetreten, bevor Langzeit-Präsident Hosni Mubarak gestürzt wurde, und trat in die aktive Politik erst 2011 nach dem Sturz Mubaraks ein. Er ist verheiratet und ist Vater von zwei Kindern. Als Übergangsregierungschef hätte Al-Din die Aufgabe, das nach dem Sturz Mursis am vergangenen Mittwoch gespaltene ägyptische Volk zu einen.
Rund 150 Menschen haben Montagabend vor der ägyptischen Botschaft in Wien gegen die Machtübernahme des Militärs in Ägypten demonstriert. Die Lage blieb zunächst friedlich, dennoch war die Polizei mit rund 25 Mann vor Ort. Zwar gehe man nicht davon aus, dass die Lage eskaliere, es handle sich jedoch um ein Botschaftsgebäude und daher benötige man verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, hieß es aus Sicherheitskreisen gegenüber der APA.
Auch wenn viele der Teilnehmer angaben, es gehe ihnen nicht vorrangig um den gestürzten ägyptischen Präsident Mohammed Mursi, war dessen Gesicht auf Plakaten allgegenwärtig. "Al-Sisi verschwinde, Mursi ist unser Präsident", skandierten die Teilnehmer. Auch gegen den früheren Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA/IAEO) in Wien, Mohammed ElBaradei richtete sich der Protest: "ElBaradei. Schande. Mörder", stand auf einem Schild.
Herr Professor, wie beurteilen Sie die Vorkommnisse der vergangenen Tage in Ägypten?
Adel El Sayed: Ich bin ein Gegner jeglicher von oben diktierter Lösungen. In Ägypten sehen wir gegenwärtig eine noch nie dagewesene Spaltung der Gesellschaft – auf der einen Seite die Islamisten, auf der anderen Seite die frustrierte Jugend. Deswegen handelt es sich für mich bei den Ereignissen von gestern nicht um einen Putsch, sondern um den Versuch der Armee, die immer größer werdende Spaltung zu verringern.
War Mursis Sturz durch das Militär unvermeidlich?
Die Armee ist die letzte geordnete Institution im ganzen Lande, die etwas bewirken kann. Die Muslimbrüder sind aber nicht am Militär, sondern an ihrer mangelnden politischen Erfahrung gescheitert, durch die sie in weiten Teilen der Bevölkerung jegliche Unterstützung verloren haben.
Wie realistisch ist ein rascher Rückzug der Armee von der Macht?
Ich finde es aber sehr positiv, dass kein General, sondern ein Richter die Interimsregierung leitet. Die Armee bietet den Rahmen für eine ruhige Übergangszeit, diktiert aber keine Inhalte. Es handelt sich dabei größtenteils um junge, laizistische und weltoffene Offiziere, die die politische Landschaft Ägyptens ins Positive verändern wollen.
Wie sehen Sie das weitere Schicksal Mohammed Mursis und seiner Muslimbrüder?
Die letzte Botschaft Mursis war eine Botschaft des Hasses. Er wurde zwar legitim gewählt, seine Politik hat aber in keiner Weise den Volkswillen widergespiegelt. Nach dem Arabischen Frühling wurde den Muslimbrüder hoch angerechnet, dass sie wegen ihres Kampfes für mehr Freiheit lange Zeit verfolgt worden sind. Die Freiheit, die sie meinten, war allerdings nur die Freiheit gewählt zu werden - nicht die Freiheit, abgewählt zu werden. Das zeigte sich nach der Wahl Mursis.
Die Muslimbrüder – beziehungsweise ihr radikaler Flügel – müssen jetzt zu sich kommen, ihre Ideologie in Frage stellen und ihre Politik verändern. Sonst droht ihnen der Ausschluss aus der Politik, wie schon unter Nasser und Ben Ali.
Sie sprechen von einem radikalen Flügel. Stehen die Muslimbrüder vor einer Zerreißprobe?
Ja, ich erwarte eine Spaltung der Bruderschaft. Die Radikalen, die in den vergangenen eineinhalb Jahren die Zügel in der Hand hatten, haben die Jungen und Liberalen von den Hebeln der Macht ferngehalten. Die jungen Muslimbrüder haben den Geist der Straße mitbekommen und haben anders als die Dschihadisten auch nicht für Mursi demonstriert. Und dieses Bild der radikalen Mursi-Unterstützer auf den Straßen hat auch die sogenannte „Sofa-Partei“ aus ihrer Lethargie gerissen und die lange Zeit passive Bevölkerung gegen Mursis islamistisches Experiment demonstrieren lassen.
Wird sich jetzt im Land eine stabile demokratische Ordnung etablieren können?
Ich hoffe, dass es sich bei den Ereignissen von Mittwoch um die letzten Korrekturen gehandelt hat. Auch wenn ich nicht wusste wann, so hatte ich doch immer die Hoffnung, dass der Arabische Frühling letzten Endes nicht nur von den gut gebildeten Jungen, sondern von allen Schichten der Gesellschaft getragen wird.
Insgesamt hat die Demokratie aber keine Schule im Nahen Osten. Also lassen sie uns zuerst einmal über neue Konzepte reden, die die persönliche Freiheit ins Zentrum stellen, einen Neubeginn ohne islamistisches Experiment und das Ganze hoffentlich auf einer stabilen Basis.
Zur Person:
Rund 6000 Urlauber aus Österreich sind gerade in Ägypten, die meisten in der Region am Roten Meer. Zudem leben etwa 2000 Österreicher ständig im Land am Nil. Eine generelle Reisewarnung hat das Außenministerium bis Freitag nicht ausgestellt. Solange sich die Ausländer von den Demonstrationen und den großen Städten wie Kairo, Alexandria und Luxor fernhalten, sagte Ministeriumssprecher Martin Weiss zum KURIER, seien sie keiner besonderen Gefahr ausgesetzt. „Der Badeurlaub ist bis jetzt nicht negativ beeinflusst“, sagte er am Freitag.
Von „nicht dringend notwendigen Reisen“ wird vorsorglich abgeraten – Tourismusresorts am Golf von Akaba zwischen Sharm el-Sheikh und Nuwaiba sowie an der Wetküste des Golfs von Suez sind ausgenommen.
Doch die Regierung ist für den Ernstfall gerüstet. Ein Krisenunterstützungsteam (KUT) aus rund 40 Experten von Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium steht bereit, Österreichern im Notfall zu helfen, sicher in die Heimat zu kommen.
„Wenn sich eine Krise zuspitzt, dann sind Botschaften erfahrungsgemäß oft mit der Situation überfordert“, weiß Weiss. Während der Aufstände in Ägypten 2011 gingen in der Botschaft rund 2000 Anrufe ein. 3500 Urlauber und 1500 Auslandsösterreicher hielten sich damals im Land auf. Die Urlauber sind sukzessive mit normalen Linienflügen, AUA-Sondermaschinen oder Hercules-Flugzeugen des Bundesheeres nach Österreich zurückgekommen – mithilfe des KUT.
Derzeit sei noch nicht absehbar, ob das Krisenteam der Regierung tätig werden müsse, sagte Weiss. Doch die 40 Experten sind, wie es so schön heißt, „auf Stand-by“. Wem die bevorstehende Reise nach Ägypten zu gefährlich erscheint, kann laut Verein für Konsumenteninformation versuchen, kostenlos zu stornieren. Auch AKNÖ-Konsumentenberater Manfred Neubauer glaubt, dass Reiseveranstalter in diesen Situationen „relativ kulant“ seien.