Pünktlichkeit: Zeit ist relativ
Von Laila Docekal
Pünktlichkeit ist eine Tugend, heißt es. Ich behaupte, sie ist ein Talent. Und für Menschen, die damit einfach nicht ausgestattet sind, ist sie sehr schwer zu erlernen. Wie für meine Schwester S. – ein wunderbar quirliger Mensch, aber die Zeit rinnt nur so durch ihre Finger. Man bestellt sie am besten eine halbe Stunde früher zu einem Treffen, damit sie halbwegs pünktlich ankommt.
Als sie zum ersten Mal ein Flugzeug verpasst hat, war es ärgerlich, aber sie konnte noch darüber lachen. „Kann ja mal passieren, so bin ich halt!“, sagte sie selbstbewusst. Eine kostspielige Eigenschaft. Inzwischen ist ihr das schon so oft passiert, dass sie jetzt mindestens drei Stunden vor dem Abflug am Flughafen ist.
Das genaue Gegenteil ist meine Freundin A. – man könnte fast eine Uhr nach ihr stellen. Das Bewundernswerte: A. schafft es, selbst in hektischen Situationen Ruhe zu bewahren. Unlängst verriet sie ihr Geheimnis: „Je stressiger es wird, desto langsamer musst du werden.“
Klingt zuerst einmal paradox. Ich ließ es auf ein Experiment ankommen. Meine kleine Tochter kommt da nämlich nach ihrer Tante – Zeit spielt keine Rolle. Vor allem nicht, wenn Mama und Papa es eilig haben. Egal, wie früh wir aufstehen, sie sitzt bis zur letzten Minute entspannt am Frühstückstisch und lässt sich ihr Butterbrot auf der Zunge zergehen, während wir mit Zahnbürste und Anziehsachen zum Abmarsch bereitstehen. Nebenfrage: In welchem Universum – außer im Film – schaffen es Familien, unter der Woche zusammen zu frühstücken?
Das Experiment brachte zwei wichtige Erkenntnisse: Stress zu machen, macht sie nicht schneller, sondern erhöht nur meinen eigenen Stresspegel. Eine Tugend ist, sich die Zeit zu nehmen, die man braucht und sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.