Meinung/Kolumnen/Paaradox

Fremde in der Nacht

Gibt man ihm den kleinen Freiheitsfinger, will er die ganze Freiheitsstatue.

Gabriele Kuhn
über Auslauf

Sie

Männer – wie Frauen übrigens auch – brauchen zuweilen Auslauf. 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche im gemeinsamen Stall, das hält ja keiner aus. Ein Fall von nicht artgerechter Käfighaltung, die den Gockel in einen unglücklichen Hahn verwandelt. Und so einen will kein Huhn von Welt daheim haben. Also gewähre ich dem Mann nebenan und mir immer wieder Auszeit. Ich habe da eher bescheidene Ansprüche. Mir reicht eine Stunde im Souterrain, wo ich unbehelligt auf dem Heimtrainer sitze und zu einer alten Folge SOKO Donau transpiriere. Würde man mich verkaufen wollen, stünde im Inserat etwas in der Art: „Die gut erhaltene Frau Gabriele ist nicht sehr anspruchsvoll und leicht zu halten“.

Der Ausuferer

Anders der Mann nebenan. Der hat einen Hang zum Ausufern. Gibt man ihm den kleinen Freiheitsfinger, will er die ganze Freiheitsstatue. Einmal „draußen“, tut er sich schwer, heimzufinden. Soll sein, was ich aber nicht leiden kann: Um vier Uhr morgens aufzuwachen, und zu spüren: Gaby alleine zu Hause. Nachts mutiert jede Fantasie zum Monster – also hab’ ich’s gern, wenn ich per SMS informiert werde: „Ich lebe.“ Das schafft der Freiheitskämpfer nebenan nicht. Für ihn scheint alles interessanter als die fade Nuss im Pyjama. Vor Kurzem sorgte er für einen echten Überraschungscoup. Er war weg, es war fünf vor zwölf, ich wollte schlafen gehen – als mein Blick auf eine! Spinne! so! groß! wie! ein! Mokkatässchenteller! fiel. Für mich Arachnophobikerin das pure Grauen. Ich nahm erst ein Viertel Wein, dann ein Viertel Baldrian und setzte ein Not-SMS an ihn ab: „Spinne im Schlafzimmer, Hiiiiiilfe!“ Wobei ich wusste, dass er es gerade sehr lustig hatte. Zwei Sekunden später kam die Antwort: „Hui, bin gleich da!“ Liebe ist, wenn auch noch nach 15 gemeinsamen Jahren Dinge passieren, mit denen man niemals gerechnet hätte.

Twitter: @GabrieleKuhn

Er

Meine Frau macht sich rasch Sorgen. Das hängt mit ihrer Lebensgeschichte zusammen, und daher habe ich dafür großes Verständnis. Auch wenn es mitunter mühsam ist, sie davon zu überzeugen, dass eine zehnminütige Verspätung nicht automatisch bedeuten muss, dass ich entführt wurde und längst als Versuchsobjekt auf einem Labortisch von Außerirdischen liege. Ich bitte sie daher immer, Ruhe zu bewahren und mir per SMS allenfalls ein Wo bist denn? zu schicken, ehe sie bei der Polizei um eine Großfahndung samt Luftraumüberwachung bittet.

Gleichzeitig bin ich natürlich auf das Thema seit vielen Jahren sensibilisiert und bemühe mich, potenzielle Anlassfälle für Nervenflattern zu antizipieren und zu verhindern. Das ist im Grunde nicht schwierig, weil ich ohnedies keine Streunertendenzen aufweise. Aber gelegentlich vergesse ich eben doch auf den Hinweis, dass es später wird, sehr viel später sogar. Und dann ereilen mich – quasi zur Strafe – die sonderbarsten Botschaften einer Frau, die aus dem Tiefschlaf kommend in die Handytasten haut. Wie: na bumm, es is drei uhr, du nix daha, scherz, oder? blödmann!

Die Riesenspinne

Das tut mir dann natürlich leid. Ganz ehrlich sogar. Und so erklärt sich auch meine spontane Bereitschaft, unverzüglich nach Hause zu eilen, weil die Liebste im Schlafzimmer einer ihrer Beschreibung nach faustgroßen Spinne ins garantiert angriffslustige Auge blicken muss. Das sind knapp vor Beginn der Geisterstunde jene Momente, in denen mir klar ist, dass ich am nächsten Tag im Google-Verlauf Suchbegriffe von Riesenspinne Mitteleuropa über Spinne Mensch Attacke bis Arachnophobie-Seminar finden werde. Dass es ihr mit dieser irrationalen Angst richtig schlecht geht. Und dass ich als Held gebraucht werde. Das mag ich. Fast so sehr wie diesen bezaubernden Blick der dankbaren Erleichterung.

Twitter: @MHufnagl