Die Mutter aller Fragen
Er sagte damals meist: Ich denke an dich, Süße.
über "Woran denkst du?"
Sie
Kommunikation ist in einer Beziehung eine Art Liebesdefibrillator – es war der österreichische Wissenschaftler Paul Watzlawick, der einst sagte: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Nun, ich kommuniziere gerne – am liebsten, indem ich den Mann nebenan ganz viel frage. Das Problem dabei: Er hasst das. Stelle ich auch nur eine einzige Frage, die ihm nicht konveniert, wirft er mir sogleich KGB-Methoden vor: Du kontrollierst mich! Das ist nicht nur extrem unfair und subjektiv, sondern vor allem absurd. Niemals würde ich auf die Idee kommen, den Pinocchio nebenan überwachen zu wollen. Aber freilich – im Laufe der vielen Beziehungsjahre weiß ich jetzt, welche Fragen ich eher vermeiden sollte, um den Hausfrieden nicht völlig zu ramponieren.
Ausgestorben
Ganz oben auf der Liste der fast ausgestorbenen Fragen steht das extrem gefährliche Woran denkst du? Wäre die ein Tier, dann eine sehr große, sehr giftige Spinne, die im Gehirn von Männern Eier legt. Ich habe mich ein paar Mal daran versucht, allerdings nur in den ersten drei Beziehungsmonaten, Antworten darauf bekommen. Wobei ich heute ein wenig zweifle, ob diese der Wahrheit entsprachen (Er sagte damals meist: Ich denke an dich, Süße). Dann folgten etwa zwei Jahre lang monoton-ausweichende Antworten wie Ich denke an nichts. Oder: Woran soll ich schon denken? Auf meine Entgegnung „Geh bitte, niemand kann nichts denken, außer er lungert seit 30 Jahren in Indien herum und meditiert den ganzen Tag“ folgte meist ein langer, philosophischer Streit. Und heute? Heute reagiert er auf die Frage Woran denkst du? so als hätte jemand gesagt Leo Messi hat ein Bein verloren. Mit Angst, Hektik, Entsetzen, Ablehnung. Schlimm für mich? Nein. Zumal ich nach 16 gemeinsamen Jahren eh längst weiß, welche Abenteuer in seinem Kopf wohnen. Und welche nicht.
Er
Neben Hast du mich noch ein bissi lieb? und Findest du, dass mir das steht? ist mit Sicherheit Woran denkst du (gerade)? die lästigste aller Fragen.
Gut, vielleicht einmal abgesehen von Wieso kommst du so spät?, Was hast du den ganzen Tag gemacht? und Warum erreiche ich bei dir nur die Mailbox?
Und natürlich ausgenommen Ist das dein Ernst?, Willst du jetzt mit mir streiten und Ist das wirklich dein letztes Wort?
Plus, das sollte nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden, alle Fragen, die mit Warst du schon beginnen und beispielsweise mit einkaufen?, beim Steuerberater? und mit dem Hund? enden. Beziehungsweise mit Hast du schon, und zwar die Flaschen weggebracht?, endlich an den Installateur überwiesen? und ein Taxi bestellt?
Traumwelt
Erst unlängst habe ich laut darüber nachgedacht, was der Reiz an der investigativen Offensive von Woran denkst du? sein könnte. Eine Antwort habe ich aber nicht gefunden. Denn erstens verschwindet man in den wenigen Sekunden der geistigen Absenz doch kaum je in eine Traumwelt, die den erlebten Alltag als Farce erscheinen lässt. Und zweitens würde man genau das, wäre es doch so, ohnehin niemals zugeben. Es sei denn, man hätte gerade besondere Lust auf Provokation und Konflikt. Es ist also tatsächlich nicht so, dass man in einer augenscheinlich gedanklichen Absenz überlegt, wie es wäre, mit der Kollegin, die nie einen BH trägt, Champagner trinkend am Strand einer ach so malerischen Insel zu sitzen. Sondern eher so, dass die immer noch zu vielen Neins im Hinblick auf die Warst-du-schons und Hast-du-schons wie kleine Wirbelwinde durch den Kopf fegen. Deshalb, und nur deshalb, murmle ich auch meiner Frau regelmäßig zu: „An nichts“. Eine Lüge, stimmt. Aber wer gesteht schon gerne lautstark seine Banalität?
Twitter: @MHufnagl