Der Kampf ums Kipferl
Jetzt bin ich groß, an der Produktion aktiv beteiligt und bereit für den Widerstand.
über die Szenen einer Redaktionsehe.
Sie
Ich mag die Vorweihnachtszeit, es ist die Zeit des Vorglühens und der unnachahmlichen Gerüche. Zimt! Zucker! Rotweinkelch! Dazu gehören die Duft-Wolken, die durch die Wohnung wabern, wenn ich Vanillekipferln backe. Theoretisch fehlt mir dafür zwar die Zeit, aber – wurscht – die nehm’ ich mir. Da stehe ich und verarbeite bekömmliches Fett mit gesundem Zucker, um die Kalorienbomben in Hörnchenform mit viel Liebe und Vanille in Dosen zu stapeln. Dort sollte die Bäckerei einige Zeit ruhen, um a) den Vanillegeschmack zu absorbieren und b) mürbe zu werden. Mürbe werden nicht die Kipferln, sondern ich. Das Problem: Es gibt einen Vanillekipferl-Dieb in unserer Familie, der auf die verordnete Ruhezeit pfeift und all die mühsam von Hand gewuzelten Dinger jetzt! und hier! und bittesofort! vernaschen würde. Ich gehe davon aus, Sie haben einen Verdacht, wer der Leader of the Vanillekipferl-Gang ist: Ja, es ist der Mann nebenan. Was ihn davon abhält, das Backwerk innerhalb von zwei Serienteilen „ Breaking Bad“ oder einer Pressestunde zu inhalieren, stand zuletzt im Märchen vom unverdauten Schweinsbraten.
Durchschaubare Strategie
Also stiehlt und nascht er in Schüben. Und zwar immer dann, wenn ich nicht daheim oder bereits im Bett bin. Da lümmelt er dann im Sofa, die Dose im Schoß, und konsumiert die Adventware wie Popcorn. Der Kampf ums Kipferl beginnt aber schon während der Backphase. Dafür hat sich der Dieb eine – natürlich durchschaubare – Strategie zurechtgelegt: Er tut so, als würde er mir zur Hand gehen wollen. Da ein kleiner Handgriff, dort ein scheinbar unverzichtbarer Input. Hauptsache, er kann wie ein hungriger Kater herumstreichen und bei der ersten fertigen Partie Kipferln zuschlagen. Ich bin längst der Meinung, es bräuchte Fingerfesseln für Vanillekipferl-Diebe. Oder einen Keuschheitsgürtel für Keksdosen.
Er
Tagelang bat ich meine Frau, das Thema ruhen zu lassen. Ich sah ihr tief in die Augen, um sie mit Nachdruck davon abzuhalten, eine Wunde meiner Kindheit aufzureißen. Es half nix. Also muss ich in die Vergangenheit eintauchen, um zu erzählen:
Meine Mutter buk (ach, wie ich dieses Wort mag) immerzu die besten Vanillekipferln der Welt. Nur: Sie hatte auch ein unverrückbares Bild zur Freigabe der kleinen Meisterwerke. Es regierte alle Jahre wieder der streng reglementierte kleinportionierte Genuss. Das war so, weil es so war. Sämtliche Proteste von Vater, Schwester und mir wurden weggeblasen wie frischer Staubzucker. Einerlei, dass wir stets im Chor beteuerten, die ofenfrischen Kipferln am liebsten zu haben. Nein. Es musste alles seine teigige Ordnung haben. Gleich nach dem Backen gab es daher ein Tellerchen mit abgezählten sechs Stück. Was wir in intensiv nach Vanille duftenden Räumen als blanke Provokation empfanden.
Rituale
Ab dann galt das Abliege-Gebot. Denn: Erst durch adäquates Verweilen in der Dose würden die Kipferln ihre wahre Geschmacksblüte entfalten können (wo sind die Experten, wenn man sie braucht, und die mir bestätigen, dass das un!mö!glich! stimmen kann?). Und auch mein kindlicher Vorschlag, Mami möge dann halt schon im Sommer massenhaft Bleche in den Ofen schieben, wurde nie verwirklicht.
Tatsache ist: Jahrzehnte später wollte meine Frau sehr ähnliche Rituale (Abgabe in Häppchen, Einteilen bis zum Heiligen Abend) in die Ehe einbringen. Nur: Jetzt bin ich groß, an der Produktion aktiv beteiligt und bereit für den Widerstand. Also finde ich die Kipferl-Dosen auch hinter dem Kaminholz oder im Wäschekorb und stehle nach Herzenslust. Sie sagt: „Spinner.“ Ich sage: Es ist mein persönliches Stopf-an-Stopf-Rennen zur Bewältigung eines Traumas.
Twitter: @MHufnagl