Meinung/Kolumnen/Ohrwaschl

Vom Vergessen

Eine solche Gesellschaft ist nicht reif zu vergessen, sie würde nur verdrängen

Birgit Braunrath
über den Sinn des Sich-Erinnerns und Erinnert-Werdens

An alle, die so vehement gegen das Gedenken und für das Vergessen plädieren:

Ja, Vergessen hat seine Berechtigung. Vergessen kann eine Gnade sein, der letzte Schritt zur Heilung. Und zwar dann, wenn ein Trauma so oft in Erinnerung gerufen, untersucht und betrauert worden ist, bis es in seiner Tragweite erfasst und verarbeitet ist, sodass unumkehrbar Veränderung eingetreten ist. Sonst ist es Verdrängen. Erst wenn dieser Schritt gesetzt ist, wenn spürbar und messbar wird, dass eine Gesellschaft daran gewachsen ist, verstanden, gelernt und wahrhaft begriffen hat, dann ist es Zeit, das Geschehene den Geschichtsbüchern und die Toten den Gedenkstätten zu übergeben.

Eine Gesellschaft, in der der Chef einer Regierungspartei von seinen Anhängern als Kriechtier und Verräter denunziert wird, wenn er sagt: „Die Verantwortung und das Gedenken an die Opfer des Holocaust sind uns Verpflichtung in der Gegenwart und für kommende Generationen" – eine solche Gesellschaft ist nicht reif zu vergessen.

Sie braucht die wenigen noch Überlebenden, die das Leid wieder und wieder ins kollektive Bewusstsein holen. So lange, bis auch der Letzte begriffen hat: Erst unermüdliche, unerschütterliche Menschlichkeit gegen jede populistische Verführung, trotz aller Selbstsucht und mit stets wachen Augen macht uns zu Menschen.