Hagia Sophia: Echte Weisheit war bei Erdoğan keine Kategorie
Von Walter Friedl
Auf den Trümmern eroberter Kulturstätten wurden schon in grauen Vorzeiten die Tempel der neuen Herren errichtet. Das war auch im ausgehenden Mittelalter nicht anders: Als Sultan Mehmet II. Fatih 1453 die Byzantiner aus Konstantinopel vertrieb, machte er zwar die damals größte Kirche der Christenheit, die Hagia Sophia im heutigen Istanbul, nicht dem Erdboden gleich, formte sie aber zu einer Moschee um – eine tiefe und schmerzliche Demütigung für die Kriegsverlierer.
"Der Eroberer"
Und auf den Spuren des Osmanen mit dem Beinamen „Der Eroberer“ wandelt nun der türkische Präsident Tayyip Erdoğan. Als ob es keinen zivilisatorischen und humanistischen Fortschritt in den vergangenen 500 Jahren gegeben hätte. Nicht dass ab dem heutigen Freitag in dem Baujuwel aus dem sechsten Jahrhundert wieder Allah verehrt wird, ist das Problem – wobei es der Geschichte der Hagia Sophia (Heilige Weisheit) eher entspräche, wenn dort multi-konfessionelle Gebete stattfänden. Das Verwerfliche daran ist, wie der Staatschef die Causa für seine politische Agenda missbraucht – unter anderem als Angriff auf den Laizismus, also auf die strikte Trennung von Staat und Religion.
Leuchtturm des Säkularismus
In großer Weisheit erkannte nämlich Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, die Symbolkraft der Hagia Sophia. Nicht mehr Moschee sollte sie fortan (1935) sein, Kirche auch nicht, sondern Museum. Gleichsam als Leuchtturm seines Säkularismus.
Im islamistischen Lager
Dieser war Erdoğan stets ein Gräuel. Von Anbeginn seiner politischen Karriere war er im islamistischen Lager beheimatet, nach der demokratischen Machtübernahme vor rund 20 Jahren formte er das Land mehr und mehr nach seinen religiösen Vorstellungen – was jetzt in der Rückumwandlung des Weltkulturerbes am Bosporus in eine Moschee gipfelt.
Strenggläubige Muslime forderten diesen Schritt ebenso wie Ultranationalisten bereits seit Jahrzehnten. Im Laufe der Zeit wurde er mehrheitsfähig. Laut Umfragen befürworten sieben von zehn Türken die international heftig kritisierte Maßnahme.
Entlastungsoffensive
Warum kommt sie gerade jetzt? Die Antwort ist einfach: Erdoğans Zustimmungswerte bei den Wählern schwächeln, geschuldet der maroden Wirtschaft, die bereits vor Corona ziemlich am Boden lag, und einem erratischen Krisenmanagement der Pandemie. Der Präsident startete eine Entlastungsoffensive und will vor allem die Reihen seiner religiös-nationalistischen Stammwähler schließen.
Schwieriges Gegenüber für EU
Dass ihm für den eigenen Machterhalt (fast) jedes Mittel recht ist, macht Erdoğan für Europa zu einem so unberechenbaren, schwierigen und auch gefährlichen Gegenüber. Im Fall der Hagia Sophia, in deren Umfeld unerträgliche Kulturkampftöne angeschlagen wurden, wurde dies besonders deutlich. Echte Weisheit war jedenfalls keine Kategorie.