Meinung/Gastkommentar

KI lehren statt verbieten

„Bitte erstelle einen eigenen Chatbot für jedes Buch meiner Leseliste“, beauftragte ein Schweizer Maturant die kostenpflichtige Version von ChatGPT. Mit diesen neun maßgeschneiderten Bots bereitete sich der Gymnasiast auf seine Deutschmatura vor. Er fragte nach den wesentlichen Aussagen und Deutungsmöglichkeiten der Werke und den historischen Kontext. Die Prüfung bestand er mit „sehr gut“, ohne auch nur eines der neun Bücher gelesen zu haben.

Nicht seine Lesefaulheit ist hier spannend, sondern seine Methode. Er hat es geschafft, den Bot nicht halluzinieren zu lassen, sondern sich auf die richtigen Quellen zu verlassen. Sehr wahrscheinlich werden Lernende zukünftig so lernen – hochindividuell und im eigenen Lerntempo. „Warum einen Schraubenzieher benutzen, wenn ich einen Akku-Bohrer zur Hand habe?“, fragte sich etwa ein Schweizer Student, der seine Bachelorarbeit mit ChatGPT schreiben ließ.

Natürlich bleibt das eigene Lesen der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis. Je mehr man liest, desto mehr versteht man. Aber dank KI bedeutet Textverständnis nicht unbedingt mehr, dass man dafür einen Text selbst gelesen zu haben.

Wir leben ja auch in einer Zeit, in der KI Wissen produziert. Während in Albanien Algorithmen Gesetze schreiben, die KI in Laboren Durchbrüche erzielt und in Büros Routineaufgaben übernimmt, klammern wir uns an veraltete Prüfungsformen.

Alle Inhalte anzeigen

Nur ein Pflaster

Vor diesem Hintergrund wirkt die Abschaffung der Vorwissenschaftlichen Arbeit bei der Matura wie ein Pflaster auf ein gebrochenes Bein. Ja, es stoppt kurzfristig die Blutung. Aber die eigentliche Herausforderung ist weitaus größer. Jetzt, wo die klassischen Prüfungsformen an ihr natürliches Ende kommen, müssen wir dringend diskutieren: Wie sieht Lernen im Zeitalter der KI aus?

„Wie können wir verhindern, dass Schülerinnen und Schüler mit KI ‚schummeln‘?“ ist die falsche Frage. Es geht darum, den Umgang mit diesem Werkzeug zu schulen, statt es zu verbieten. Um Fähigkeiten zu stärken, die keine KI ersetzen kann: kritisches Denken, Quellenanalyse, Faktencheck.

Um Denkleistungen sicherzustellen, müssen wir die Lehre und Prüfungen updaten. Weg von Faktenabfragen, hin zu Aufgaben, die Kreativität, Problemlösung und den ethischen Umgang mit KI fordern. In Singapur lernen Schüler nicht nur, wie man KI-Tools bedient, sondern auch, wie man Ergebnisse kritisch hinterfragt – und zwar ab der Grundschule. In Estland, wo „Digital Literacy“ fester Bestandteil des Lehrplans ist, schneiden Schülerinnen und Schüler in internationalen Vergleichstests überdurchschnittlich gut ab. Es geht darum, zu verstehen, wie Künstliche Intelligenz funktioniert, um die eigene natürliche Intelligenz im Berufsleben besser einsetzen zu können.

Christoph Becker ist Geschäftsführer des österreichischen Bildungsanbieters ETC.