Meinung/Gastkommentar

Die Realität ist komplexer als einseitig-antiwestliche Tiraden

Es ist unbestritten, dass der Westen in seiner Geschichte Fehler begangen, ja völkerrechtswidrige Kriege geführt hat. Es trifft aber nicht zu, dass er die Interessen Russlands durchwegs ignoriert hat, wie Wendelin Ettmayer jüngst in seinem Gastkommentar behauptet hat – im Gegenteil. Beweise dafür sind etwa die Schaffung des NATO-Russland-Rates, die Gründung der OSZE, die Aufnahme Russlands in die G-8 und WTO, aber vor allem auch die Nichtstationierung größerer Truppenkontingente in den neuen NATO-Mitgliedstaaten und das Hinhalten der Ukraine in Bezug auf einen NATO-Beitritt. Die Ukraine wurde zur Aufgabe der auf ihrem Gebiet befindlichen Nuklearwaffen gedrängt. All das entsprach den Interessen Russlands. Im Gegenzug wurden mehrere Staaten in NATO und EU aufgenommen. Der Westen war somit bemüht, Kompromisse zu finden zwischen den eigenen Interessen, jenen der Osteuropäer samt Ukrainer, die Sicherheit anstrebten, und jenen Russlands.

Genauso wenig kann von einer jahrzehntelangen „Dämonisierung“ Präsident Putins im Westen gesprochen werden, wie Ettmayer das tut. Zwar gab es punktuell Kritik. Doch selbst nach seinem Einmarsch auf der Krim wurde er – nicht zuletzt in Wien – schulterklopfend begrüßt, Angela Merkel stimmte Nord Stream II zu, die Sanktionen blieben zahnlos.

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Die Realität ist somit komplexer als in Ettmayers einseitig-antiwestlicher Tirade. Als die Aggression Russlands gegen die Ukraine 2014 begann, war diese noch gesetzlich neutral. Wie die Geschichte Belgiens, der Niederlande, Dänemarks, Norwegens, der baltischen Staaten und Finnlands und nun auch der Ukraine beweist, schützt Neutralität nicht vor fremder Aggression. Das ist auch der Grund, warum seit Beginn des großen Angriffskrieges 2022 ein Nachdenken über eine neuerliche Neutralität der Ukraine nur mit belastbaren internationalen Sicherheitsgarantien vertretbar ist. Darüber konnte aber in den Waffenstillstandsverhandlungen keine Einigkeit erzielt werden. Nach dem Bekanntwerden des Massakers von Butscha endeten die Gespräche.

Dies wie Ettmayer monokausal darauf zurückzuführen, der Westen hätte die Ukraine von der Neutralität „abgehalten“, ist daher anhand der bisher zugänglichen Informationen nicht gerechtfertigt. Dass strikte Neutralität im Widerspruch zu militärischer Solidarität und damit letzten Endes auch zur Idee kollektiver Sicherheit steht, ist ein Gemeinplatz. Dass sie angesichts eines Verteidigungskrieges „unmoralisch“ oder auch unklug sei, ist, anders als von Ettmayer insinuiert, keine „heutige“ Kritik, sondern haben europäische Denker von Platon über Hugo Grotius bis Hans Kelsen seit Jahrhunderten argumentiert.

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Heute setzt das Gewaltverbot der Satzung der Vereinten Nationen der vereinfachenden Denkart von „zwei Streithähnen“, die beide irgendwo Recht oder Unrecht haben und zwischen denen man sich neutral erklären kann, klare Grenzen. Auf eine Aggression nicht zu reagieren, bedeutet, tatenlos die Beschädigung unserer internationalen Rechtsordnung hinzunehmen und Gefahr zu laufen, selbst das nächste Opfer zu werden.

Bei dem Ausdruck „unprovozierter russischer Angriffskrieg“ handelt es sich übrigens nicht, wie Ettmayer behauptet, um „westliche Propaganda“, sondern um ein Faktum, das jeder seriöse Völkerrechtler bestätigen wird und das auch 141 UNO-Mitgliedstaaten, darunter zahlreiche Länder des globalen Südens, festgestellt haben. Ebenso haben sämtliche, aus allen Teilen der Welt stammende Richter des Internationalen Gerichtshofs mit Ausnahme der russischen und chinesischen Vertretung Russland unmittelbar nach Beginn seiner Aggression dazu aufgefordert, seine Truppen abzuziehen.

Ja, der Westen hat auch in Bezug auf die Ukraine Fehler begangen. Die Verantwortung für die zigtausend Todesopfer des russischen Angriffskrieges trägt aber nicht der Westen, wie Ettmayer andeutet, sondern der Aggressor, dem Ettmayer kein Wort der Kritik widmet. Diese Schuldumkehr ist entschieden zurückzuweisen.

Ralph Janik forscht an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien zu Völkerrecht und Krieg. 

Wolfgang Mueller lehrt am Osteuropa-Institut an der Universität Wien.