Der Spagat der Ursula von der Leyen
Die Europawahlen stehen unmittelbar bevor. Prognosen sehen die EVP wieder als stärkste Fraktion und auch die Sozialdemokraten werden ihre Mandate verteidigen. Den Grünen und Liberalen drohen hingegen europaweit Verluste von 20 bis 30 Prozent ihrer Sitze, während die Parteien am rechten Rand in dieser Größenordnung dazugewinnen könnten. Das alleine wäre aber noch nicht der vielfach angekündigte dramatische Rechtsruck, denn die integrationsfreundlichen Kräfte blieben in der Mehrheit und die Rechtsaußenparteien sind zerstrittener denn je.
Für die Wiederwahl Ursula von der Leyens sind diese Verschiebungen jedoch von Bedeutung. Um Kommissionspräsidentin zu bleiben, braucht sie zuerst eine Nominierung durch den Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs der Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen den Ton angeben. Lediglich die Regierungschefs aus Italien und Tschechien sind auf europäischer Ebene Mitglieder der rechtspopulistischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer. Doch gerade auf den Goodwill von Giorgia Meloni und ihre Fratelli d’Italia könnte es ankommen. Denn es muss auch eine Mehrheit im Europäischen Parlament ihre Zustimmung erteilen und die war schon 2019 sehr knapp. Längst nicht alle EU-Abgeordneten wählen gemäß Fraktionslinie.
Fix hat von der Leyen die Wiederwahl also nicht in der Tasche. Für die Amtsinhaberin spricht ihre Erfahrung als Krisenmanagerin. Sie hat die solidarische Impfstoffbeschaffung gemanagt, den 800-Milliarden-Euro-Wiederaufbaufonds auf die Beine gestellt, die größten Gesetzesbrocken des Green Deals durchgebracht, in Sachen Ukraine Flagge gezeigt und auch die Erweiterung der EU hat sie wieder aus dem Winterschlaf geholt. In der Öffentlichkeit wirkt sie aber unnahbar, wenig dialogbereit und stets auf message-control bedacht. Die Geschwindigkeit der Entscheidungen hat die Leist- und Umsetzbarkeit politischer Maßnahmen in den Hintergrund gedrängt. Für viele ist zudem der Kampf gegen die Teuerung aktuell noch entscheidender als der Green Deal oder die geopolitische Rolle der EU. Kritisch beäugt wurde auch ihre Vorgangsweise gegenüber Ungarn, die als Entgegenkommen empfunden wurde, um grünes Licht für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu erhalten. Auch ihre ersten Aussagen zum Krieg im Gazastreifen und ihre Reaktion auf die lauten Proteste der Landwirte wurden nicht von allen Mitgliedern wohlwollend aufgenommen.
Ihre Chancen auf Wiederwahl sind zwar höher als das Risiko, nicht gewählt zu werden, aber der notwendige inhaltliche Spagat wird eine Herausforderung. Eine Annäherung an rechtsnationale Parteien könnte ihr dringend erforderliche Stimmen bringen, die sie aber gleichzeitig im Mitte-links-Lager wieder zu verlieren droht. Noch muss von der Leyen also gehörig Überzeugungsarbeit leisten.
Paul Schmidt ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik – ÖGfE