Meinung/Gastkommentar

Ach, konservativ

„Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“: Viele kennen das Zitat, aber wenige wissen, von wem es ist. Meistens werden die – spätestens seit 1968 bei Demonstrationen gegen die politische Rechte von der politischen Linken verwendeten – Zeilen Bertolt Brecht zugeschrieben. In Wahrheit stammen sie von Giacchino Pecci. Als Papst Leo XIII. begründete er die Tradition der politischen „Enzykliken“ des Vatikans. Nach wie vor stellen sie eine provokante Richtschnur für die Programmatik politischer Bewegungen allgemein und christ(lich)-demokratischer Parteien wie der CDU oder der ÖVP besonders dar.

Ebenso wenig bekannt wie der paradox anmutende Ursprung des obigen Zitats erscheint bei manchen Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Medien, dass die Europäische Volkspartei kein Verband der „Konservativen“, sondern der Christdemokraten ist. So bezeichnen zum Beispiel die Sozialdemokraten (SPE) die EVP regelmäßig als „konservativ“, während sie sich selbst – nach dem dialektischen Motto „Konservativ ist die Reaktion auf den Fortschritt“ – „progressiv“ definieren. Das lässt jedoch außer Acht, dass sich die Christdemokratie auf eine Integration nicht nur konservativer, sondern auch liberaler und sozialer Interessen zumindest beruft.

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Eine Frage des Begriffs

Nicht nur um den Inhalt geht es freilich, sondern auch um den Begriff: So gehört es zum im Doppelsinn falschen Verständnis von „konservativ“, Bewahrung mit Beharrung gleichzusetzen. Richtig wäre vielmehr, politisch zwischen „wert-“ und „strukturkonservativ“ zu differenzieren. Verwirrend ist außerdem, dass in manchen Debatten – mit Absicht oder nicht – immer wieder die semantischen Grenzen von „konservativ“ und „rechts“ so aufgeweicht werden, als führe der Weg von „konservativ“ über „rechtskonservativ“ zu „rechts“ usw. Gegenüber dieser Polemik der einen Seite erscheint jene der anderen, wonach einzig und allein der „Konservative an der Spitze des Fortschritts“ stehe, geradezu naiv. Künstliche „Spins“ solcher Art in Permanenz führen leider dazu, dass die zur Erweiterung und Vertiefung der EU – als historisches Friedensprojekt par excellence – berufenen Bewegungen der politischen Mitte wie Christ- und Sozialdemokratie sich national und transnational eher voneinander entfernen, als sich miteinander zu verbünden.

Die Konsequenz eines in sich ambivalenten Verhaltens des Zentrums wäre eine weitere Stärkung der Ränder inhaltlich extremer und methodisch populistischer Parteien links und rechts wie momentan exemplarisch in Frankreich. Möchten wir das wirklich? Konservativ, so oder so, wäre es nicht: Die Werte würden ebenso bersten wie die Strukturen. Widerstand verpflichtet!

Thomas Köhler ist Geisteswissenschafter und Herausgeber des „Jahrbuchs für politische Beratung“ (Edition mezzogiorno). Als Sekretär Erhard Buseks war er Teil der ÖVP-Programmkommission.