Meinung

Die unausweichliche „große Umwälzung“

Bundespräsident Alexander Van der Bellen erzählte unlängst von einem Besuch in einer Vorarlberger Vorzeigefirma. Das Unternehmen, Sparte Elektrotechnik, 98 Prozent Exportquote, ist binnen weniger Jahre auf 800 Mitarbeiter angewachsen. Sie kommen aus 25 Nationen, Arbeitssprache am Vorarlberger Firmensitz ist Englisch. Das ist inzwischen gang und gäbe. Auch am KURIER-Standort ist die Kantine zweisprachig, wir teilen den Mittagstisch mit den Kollegen aus der Osteuropa-Zentrale von Raiffeisen. Kein Mensch beurteilt hier den anderen nach seinem Pass.

In der Wirtschaft sind Arbeitsmigranten inzwischen selbstverständlich. Das ist auch notwendig angesichts der Bevölkerungsentwicklung: Von rund vier Millionen Erwerbstätigen werden etwa 750.000 aus der Arbeitswelt ausscheiden. Und wir reden hier nicht über eine ferne Zukunft, sondern von einem Prozess, der bereits in Gang ist und sich demnächst mit voller Wucht entfalten wird: Die Babyboomer vertschüssen sich in die Pension.

Sie zu ersetzen, wird nicht einfach. Von der schieren Menge her sowieso nicht, aber auch der Spirit dieser 1960er-Jahrgänge ist ein spezieller. Aufstieg durch Bildung und Leistung, Rauswachsen aus den engen Verhältnissen ihrer Eltern prägen ihr Arbeitsethos. Das Schlagwort der Work-Life-Balance wurde – vielleicht aus einer Reaktion heraus – erst viel später erfunden.

Kollege Michael Bachner hat auf der Basis von Interviews mit Top-Experten dieses Landes einen Problemaufriss über die bevorstehende "große Umwälzung" zusammengetragen. Das Beunruhigende daran: Man hat nicht den Eindruck, dass die Politik die Entwicklung in ihrer vollen Tragweite erfasst und im Griff hat. Das gilt übrigens für alle Parteien.

Politische Zusammenschau fehlt

Es wird zwar allenthalben über Fachkräftemangel, Migration, Pflege, Pensionen usw. geredet, aber es fehlt die Zusammenschau. Beispiel Migration: Es müsste den Konsens geben, dass Österreich Zuwanderer braucht, dass man jedoch das Ausmaß in sozial verträglichen Grenzen halten will. Um das zu bewerkstelligen, müsste eine ehrliche Debatte stattfinden, welche Fachkräfte im Land selbst generierbar sind und welche zusätzlich durch gezieltes Anwerben von außen geholt werden.

Beispiel Frauenerwerbstätigkeit: Wer weniger Zuwanderung will, muss Frauen am Arbeitsmarkt fördern. Dazu gehören endlich gleichwertige Löhne, Anreize für Vollzeit, Möglichkeiten für Männer, sich um Familienarbeit zu kümmern. Und ja, es gehört auch dazu, bereits zugewanderte Frauen aus ihrer patriarchalisch geprägten Umgebung zu holen und ihnen zu Selbstbestimmung und Erwerbsfähigkeit zu verhelfen.

Die Wirtschaft schreit praktisch täglich wegen fehlender Fachkräfte Alarm. Schon aus Selbstschutz sollte die Politik das ernst nehmen: Wenn sie nämlich die Wirtschaft nicht mit ausreichend Fachkräften versorgt, bleiben auch die Beiträge ins Pensionssystem aus. Das verängstigt dann die Pensionisten – bald drei Millionen an der Zahl. Mit Nationalratswahlrecht.