Ausbildung zum Politiker 2.0: "Der Nachwuchs engagiert sich lieber auf der Straße"
Sechs Jahre lang hat sie als Direktorin die Europäischen-Forum-Alpbach-Stiftung geleitet und daran gearbeitet, die neue und innovative Generation weiterzubilden. Nun möchte Sonja Jöchtl einen Schritt weitergehen und mit der Plattform LovePolitics die Politiker und Politikerinnen „des 21. Jahrhunderts“ aus Deutschland, Österreich und der Schweiz finden und für die kommenden Krisen ausrüsten. LovePolitics ist also eine politische Akademie, die in der DACH-Region junge Menschen für eine Karriere in der Politik begeistern und ausbilden will.
Was LovePolitics dabei vor allem für die Zukunft der Politik fordert: Diversität, Diversität und noch mehr Diversität.
Im Interview mit dem KURIER hat Jöchtl erzählt, was einen „guten“ Politiker ausmacht, warum es an Migranten in öffentlichen Ämtern fehlt und wie wir die auf uns zukommenden Krisen angehen können:
Wir bei MehrPlatz beschäftigen uns intensiv mit der Frage, wo die Migranten in der Politik bleiben. Vielleicht sind Sie diejenige, die uns diese Frage beantworten können?
Sonja Jöchtl: Ich vermisse sie auch. Es gibt aber kaum Rollenvorbilder. Und dann kommen auch keine nach. Wir müssen aber alle Gruppen und alle Perspektiven vertreten. Und das geht es nicht nur um den Migrationshintergrund, das sind Menschen ohne akademischen Abschluss, das sind Frauen. Und die bringen genauso viel mit und können das viel, viel besser einschätzen, was für Konsequenzen politische Handlungen haben. Die haben auch oft ein besseres Gespür dafür, was fehlt. Wenn sie nie mit den Öffis fahren, kann ich nicht wirklich über Mobilität reden. Wenn ich im Rollstuhl sitze, kann ich wohl am besten urteilen, wie es Menschen mit Behinderung geht.
Auf der Website von LovePolitics schreiben Sie, dass Sie die “vom Parlament unterrepräsentierten Menschen” suchen. Was heißt das genau?
Die Gruppen, die in politischen Ämtern unterrepräsentiert sind, wollen wir in unserer Teilnehmerschaft überrepräsentierten. Das heißt, jemand, wenn sich zwei ähnlich qualifizierte Personen bewerben würden, dann wäre die Person Migrationshintergrund eher dran.
Klingt ja dann fast so wie eine Quote…
Genau das ist es.
Sollte es so etwas auch für öffentliche Ämter geben?
Ja klar. Die Gesellschaft zu repräsentieren, ist der Anspruch. Und es passiert bislang einfach nicht.
Wie kann aber dann eine, lautstark gegen Ausländer und Migranten hetzende, FPÖ in den Umfragen auf Platz eins liegen? Leben wir da in Wien nicht vielleicht in einer Illusion, dass Österreich so divers sei?
Die FPÖ kommuniziert sehr klar. Die anderen versuchen, sich so differenziert auszudrücken, bis man einfach überhaupt nicht mehr versteht, um was es geht. Oft ist es dann diese Einfachheit, die dazu führt, sie zu wählen. Das ist dann sympathischer. Die FPÖ hat ein gutes Bauchgefühl für die Gesellschaft oder für große Gruppen darin.
Mit Blick nach Schottland haben wir mit Humza Yousaf den ersten muslimischen Premierminister in Europa. Wenn wir uns die aktuelle Rhetorik einiger Parteien ansehen, scheint das hier undenkbar. Könnten Sie sich so etwas in Österreich vorstellen?
Ich glaube, es kommt stark auf die Persönlichkeiten an. In Österreich ist es aber noch ein weiter Weg, fürchte ich. Unter anderem auch, weil wir die Persönlichkeiten dafür nicht haben, die sich auch politisch engagieren. Nehmen wir einmal David Alaba. Würde er sich aufstellen, wäre er ein ernstzunehmender Kandidat. Er genießt unglaublich hohe Beliebtheitswerte und wir sind alle wahnsinnig stolz drauf, dass er Österreicher ist. Ob er politisch das auch drauf hätte? Schwer zu sagen, aber der Migrationshintergrund seiner Eltern wäre bei ihm kein Thema.
Bei LovePolitics geht es viel darum, umzugestalten. Sie sprechen auch viel von “Politikern des 21. Jahrhunderts”. Was genau heißt das?
Einer, der sich nicht vorrangig um die nächsten Wahlergebnisse kümmert, sondern darum, was für die nächste Generation wichtig ist. Die riesigen Herausforderungen der nächsten zehn Jahre werden wir nicht auf Länderebene lösen. Die wird auch kein Individuum oder eine Partei alleine lösen können. Dafür wird es Zusammenarbeit brauchen.
Sie haben unter anderem Andi Babler als solchen bezeichnet. Was qualifiziert ihn dafür?
Die guten Politiker erkennt man darin, dass sie einen starken Kompass haben. Man spürt, dass sie das Richtige tun wollen. Seine Richtlinie ist das, was er für richtig und gerecht empfindet. Und daran werden wir ihn erkennen. Es heißt nicht, dass alle Politiker des 21. Jahrhunderts automatisch alle „linke Gutmenschen“ sind. Es heißt nur, dass man sie daran erkennt, dass sie eine klare Linie und Überzeugung verfolgen. Und aufgrund dieser Überzeugung wählen wir diese Person.
Der ehemalige finnische Premierminister Alexander Stubb rät angehenden Politikern: “Sei du selbst!”. Ist das etwas, das in Österreich fehlt?
Es ist unfair zu sagen, dass es den Politikern fehlt. Wir haben total viele wahrhaftige und großartige Politiker. Vielleicht fehlt ein wenig, die eigene Überzeugung und eigene Sprache zu haben. Und nicht nur das, was im Rhetorikkurs gelehrt wird, rüberbringen.
Werden angehende Politiker davon abgeschreckt, wie in Österreich mit unseren Spitzenpolitikern umgegangen wird?
Ja, absolut! Wir wünschen uns die allerbesten Leute, die für unsere Gesellschaft sprechen. Und wir behandeln sie aber alle gleich schlecht. Wir geben allen vom ersten Tag an den Generalvorwurf der Korruption und Machtbesessenheit. Aber wenn wir die besten Leute haben wollen, dann müssen wir sie besser behandeln. Weil ansonsten führt das zu einem Kader von Politikern, die total kritikresistent werden und denen eigentlich völlig wurscht ist, was passiert. Wir kommen so nicht zu dem besten Personal, das man braucht. Ganz sicher nicht. Es spricht einfach zu viel dagegen.
Sie sprechen von dem richtigen Zeitfenster, um in die Politik einzutreten. Warum genau jetzt?
Der Nachwuchs engagiert sich lieber auf der Straße. Also die sind mindestens so politisch oder noch viel politischer als Generationen vor ihnen. Nur sehen sie sozusagen aufgrund des Images und des Charakters der Politik überhaupt keinen Grund, hineinzugehen. Die sind ja auch sonst viel wählerischer als früher. Wir haben viele Babyboomer, die jetzt in Pension gehen. Da ist eine Lücke dahinter, die gefüllt werden muss. Das eigentliche Recruiting Problem gibt es auf kommunaler Ebene in politischen Ämtern. Der Job ist einfach zu unattraktiv. Und da gibt es eben deswegen auch da der langsam steigende Frauenanteil beim Bürgermeisteramt. Das ist eigentlich der Klassiker, dass Frauen dann gehen, wenn die Männer keine Lust mehr haben.
Viele Studien zeigen, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund kaum in der Politik engagieren oder sich dafür interessieren. Wie kann das geändert werden?
Ganz offensichtlich gibt es kein Marketing dafür. Nichts passiert von selbst. Warum sollte es hier anders sein? Bei etwas derart „ungeilem“ wie der Politik. Ich glaube aber, dass es die richtigen coolen Leute aus unserer Gesellschaft braucht. Die, die darüber reden und sagen, wie schön es ist, die Möglichkeit zu haben, die Gesellschaft mitgestalten zu können. Und so beeindruckend ich das Engagement von vielen auf der Straße auch finde, so sehr weiß ich, dass die Veränderung in der Politik stattfindet. Das heißt, eigentlich müssen man sagen, dass der Klimawandel nicht auf der Straße passiert, sondern drinnen, in der Politik.
Zum Thema Überparteilichkeit. In eurem Team sind fast alle politische Parteien durch ehemalige oder aktive Politiker vertreten. Von der FPÖ aber niemand. Wie kommt es dazu?
In unserem Gründungsteam sind keine dabei. Es sind aber auch ganz viele andere Parteien nicht vertreten. Was uns dennoch wichtig ist, dass wir FPÖ-Politiker als Sprecher in unserem Kurs haben. Wir erwarten von unseren Teilnehmenden auch, dass sie mit allen Parteien sprechen. Parteien auszuschließen wird nicht funktionieren.