Auf den Spuren des Zeitgefühls
Von Ingrid Teufl
Mehrere Wochen abgeschottet von der Außenwelt verbringen – für einen Studenten eine geradezu ideale Vorstellung, um sich auf seine große Abschlussprüfung vorzubereiten. Mit dieser Motivation nahm der junge Mann tatsächlich an den sogenannten "Bunker-Experimenten" des Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie am Bodensee teil. Dort wurde zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren mit insgesamt 300 Probanden erforscht, wie die innere Uhr den menschlichen Schlaf- und Wachrhythmus steuert.
Grafik: Wie die Zeit vergeht
Während seiner Zeit im komfortabel adaptierten, schalldichten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg lernte der Student tatsächlich fleißig – sein zuvor festgelegtes Tagespensum von täglich 14 Stunden Lernen absolvierte er vorbildlich und war sicher, gut in der Zeit zu liegen. Doch als sich die Türen des Bunkers nach der festgesetzten Zeit öffneten, fiel er aus allen Wolken. Er beharrte darauf, dass die Zeit noch nicht um sei, weil er trotz minutiösen Planens und Lernens mit seinem Stoff noch nicht ganz durch war.
Wussten Sie, dass...?
Was den Studenten kurz vor seiner großen Prüfung nahe eines Nervenzusammenbruchs brachte, war für die Verhaltensforscher ein äußerst interessanter Forschungsgegenstand. Denn es stellte sich heraus, dass der Schlaf-Wach-Rhythmus des Studenten derart durcheinander geraten war, ohne dass er sich dessen bewusst geworden war. Wenn er dachte, 14 Stunden zu arbeiten, waren es in Wahrheit 20 Stunden gewesen.
Die Zeit war dem angehenden Akademiker also viel zu schnell vergangen. Dafür braucht es allerdings mitunter gar keine besonderen Bedingungen wie in einem abgeschotteten Bunker. Oder fragen Sie sich nicht auch angesichts der Zeitumstellung auf die Winterzeit, wo denn das Jahr 2014 hin verschwunden ist, das doch eben erst begonnen hatte?
Zeit ist relativ
Zeit ist höchst komplex, aber trotzdem immer relativ, könnte man sagen. Warum unsere Wahrnehmung davon so unterschiedlich sein kann, erklärt der Psychologe Norman Schmid mit verschiedenen Ebenen des Zeiterlebens. "Alles ist durch eine persönliche Brille gefärbt. Gerade im Herbst ist viel los. Beruflich bei einem selbst und mit Kindern durch den Schulbeginn. so kommen einem die Zeitverläufe schneller vor." Punktuelle Erlebnisse, die die Zeit herunterbremsen, können hingegen als sehr reichhaltig wahrgenommen werden. Zum Beispiel, wenn man sich noch in allen Details an einem denkwürdigen Spaziergang im Frühling erinnern kann. Obwohl er vielleicht nur eine Stunde gedauert hat. "Worauf wir uns in verschiedenen Umgebungen einschwingen, be- oder entschleunigt", betont Schmid.
Bei unserem Zeitgefühl kommen auch Erinnerungen und Erfahrungen ins Spiel. Marc Wittmann nennt das "retrospektive Zeitwahrnehmung". Er forscht darüber am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg, Deutschland. "Im Nachhinein prägt die Menge an unterschiedlichen Erfahrungen, die subjektiv empfundene Dauer."
Dasselbe passiere übrigens, wenn wir das Gefühl haben, die Jahre verfliegen und Kindheit und Jugendzeit viel länger gedauert haben. "Im Lauf des Älterwerdens haben wir immer weniger wirklich neuartige Erlebnisse. Die Abläufe müssen nicht mehr abgespeichert werden."
Körperwahrnehmung
Die jüngsten Forschungen deuten darauf hin, dass dem Zeitempfinden die Körperwahrnehmung zugrunde liegt. Jeder hat also sein eigenes Zeit-Gefühl: "Wenn man am Schreibtisch sitzt, spürt man seinen Körper", sagt Wittmann. Hirnforscher haben festgestellt, dass zu diesem Zeitpunkt eine bestimmte Region im Gehirn aktiv ist: die Inselrinde . "Sie hat viel mit Emotionalität und eben Körperwahrnehmung zu tun." Besonders starke Aktivität ist übrigens beim Wahrnehmen von Zeitdauern im Sekundenbereich erkennbar. Emotionale und körperliche Einflüsse können unser Zeitgefühl allerdings erheblich beeinflussen, wie die "Bunker-Experimente" zeigten. Gerade in unserer hektischen Zeit, wo die Gedanken mal hierhin, mal dorthin springen, bleibt viel persönliches Körpergespür auf der Strecke. Psychologe Norman Schmid: "Je mehr Informationen außen vorhanden sind, desto schwerer fällt es, mit der Aufmerksamkeit bei einer Sache zu bleiben." Für ihn liegt der Schlüssel zum Gegensteuern in der Ausrichtung auf das Hier und Jetzt.
Achtsamkeit
Das gelingt vielen mit einfachen Achtsamkeitsübungen gut. Ob man sich einige Minuten ganz auf Form, Farbe und Geschmack einer Rosine einlässt, auf den eigenen Atem achtet oder das Flackern einer Kerzenflamme beobachtet, der Effekt ist immer derselbe. "Damit wird die Zeit heruntergebremst und man fühlt sich tatsächlich etwas entschleunigt."
Zeit zum Lesen: Buchtipps
Mithilfe von Neurofeedback, das Schmid in seiner Praxis in St. Pölten einsetzt, lassen sich diese Veränderungen auch bildlich darstellen. Mittels Elektroencephalogramm (EEG) werden die Gehirnwellen gemessen. "Man sieht, welche Bereiche wann aktiv sind", erklärt er. Läuft das Hirn auf Hochtouren, zeigt sich viel Aktivität in rot und orange. "Fokussiert man aber auf etwas Bestimmtes, wie etwa die Rosine, ist nur ein bestimmtes Areal aktiv und andere Bereiche fahren herunter." Das Erkennen dieser Unterschiede helfe, den eigenen Rhythmus wieder zu finden. Denn: "Viele haben heute verlernt, herunterzuschalten. Und gerade dadurch kommt es zum Verschleiß eigener Ressourcen."
Während die Lieblingsserie im Fernsehen läuft, wird fast im Minutentakt getwittert und auf Facebook gepostet. Dazwischen müssen unbedingt SMS und Mails verschickt werden. Im Arbeitsalltag läuft es ähnlich ab. Die Mailbox am Computer füllt sich laufend mit Nachrichten, die man glaubt, sofort lesen und beantworten zu müssen.
Das ist Multitasking, wie es dieser Tage modern ist. Der Psychologe Norman Schmid, sagt: "Multitasking wird heutzutage zur großen Kunst stilisiert. Aber es macht eigentlich mehr Probleme, als es nutzt." Denn die Menge an Informationen, die auf unser Gehirn einprasseln, erfordern einiges an Energie um, diese Einflüsse zu filtern. Das sei eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.
Automatisierung und Digitalisierung haben unsere Welt in nur wenigen Jahren total verändert – diese Meinung vertritt auch der Neurobiologe Bernd Hufnagl in seinem aktuellen Buch "Besser fix als fertig". Für ihn haben sich die Arbeitsprozesse "vergleichzeitigt". Die Folge davon: "Wir arbeiten nicht mehr hirngerecht."
Denn mittlerweile arbeiten Menschen nämlich im Schnitt an zwölf unterschiedlichen Themen oder Aufgaben pro Tag. Davon werden rund 57 Prozent aller Arbeiten eines Tages unterbrochen und zum Teil nicht einmal mehr weiter bearbeitet. Hufnagl erklärt, warum: "Nach jeder Ablenkung muss in unserem Gehirn eine neue Entscheidung getroffen werden – was ist als nächstes zu erledigen?
Das Erstaunliche: "Die Struktur unseres Gehirns und Körpers passt sich mit unglaublicher Schnelligkeit und Effizienz an neue Herausforderungen an." Veränderungen der eigenen Wahrnehmung und des eigenen Verhaltens würden wir lange oder sogar überhaupt nicht bemerken.
Der Neurobiologe plädiert dafür, die Eigen- und Fremdwahrnehmung mit einigen einfachen Gedanken zu schärfen:
Wer die Ergebnisse seiner Anstrengung nicht zeitnah sehen kann, bekommt kein Belohnungs-Dopamin aus seinem körpereigenen System.
Wer ständig auf Ablenkungen reagiert, kann bald Wesentliches nicht mehr von Unwesentlichem unterscheiden.
Wer ständig Multitasking betreibt, entwickelt Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizite.
Fünf Jahre lang kämpfte Margot F. mit Überforderung im Alltag – obwohl sie in der Pension alle Zeit der Welt gehabt hätte. "Trotzdem zog das Leben an mir vorbei. Ich hatte keine Freude mehr, bin nicht mehr aus dem Haus gegangen. Und wenn, hatte ich den Kopf nur zu Boden gesenkt."
Ein Mitgrund war, dass sie ihren geliebten Beruf wegen körperlicher Beschwerden aufgeben hatte müssen. Nicht einmal die Enkelkinder, die in diesen Jahren zur Welt kamen, konnten sie zum Leben motivieren. "Die Beschäftigung mit ihnen war mir einfach zu viel."
Erst, als die heute 58-Jährige in einer Therapie begann, sich wieder mit kleinen Schritten auf das Leben um sie herum einzulassen, veränderte sich vieles. "Mit Achtsamkeitsübungen habe ich gelernt, mich und meine Umgebung wieder zu spüren." Vor allem beim Spazierengehen in der Natur gelang ihr das immer besser. "Es klingt sehr einfach, aber es ist wahnsinnig schwer, sich auf etwas Neues, Anderes einzulassen." Schon im Morgengrauen machte sie sich mit ihren Walking-Stöcken auf. "Dabei wieder Sonnenaufgänge zu erleben, hat mir viel gegeben. Die hatte ich ja gar nicht mehr wahrgenommen."
Diese positiven Erfahrungen sind geblieben. "Heute tue ich viel mehr für mich selbst als früher." Auf dem Weg aus ihrer Krise begann Margot F. auch zu meditieren. "Das mache ich noch immer regelmäßig – nichts denken zu müssen und ganz bei mir zu sein, ist herrlich."
Wie im sprichwörtlichen Hamsterrad – so fühlte sich Franz S. im Vorjahr. "Ich war als Bauleiter jeden Tag auf Baustellen in einer größeren Region unterwegs und hatte kein Wochenende mehr. Die Ruhe fehlte, das Handy läutete ständig, ich wollt’s am liebsten aus dem Fenster werfen." Zum Stress gesellte sich mit der Zeit enorme Antriebslosigkeit. "Ich fühlte mich richtig ausgebrannt. Alles hat mich belastet." Dazu kamen gesundheitliche Probleme in Form eines Tinnitus. "Ich war körperlich und seelisch in einem furchtbaren Zustand."
Der 55-Jährige beschloss, dass es so nicht weitergehen könne und nahm sich eine mehrwöchige Auszeit. "Ich musste einfach etwas ändern in meinem Leben, wusste aber noch nicht genau, was." Er probierte – unter Anleitung von Ärzten und Therapeuten – einiges aus. "Jeder muss für sich selbst herausfinden, wie er seine Zeit gut erfüllt." Für sich entdeckte Franz S. körperliche Betätigung. "Bewegung ist für mich das Um und Auf. Das aktiviert und beruhigt gleichermaßen." Für seinen Garten kaufte er sich daher einen neuen Rasenmäher – "einen zum Schieben, keinen Mini-Traktor zum oben sitzen." Ebenso sorgte Lesen für Ausgleich.
Auch auf der beruflichen Ebene veränderte er einiges, reduzierte etwa seinen Aufgabenbereich. "Jetzt verdiene ich zwar etwas weniger, aber es geht mir besser." Die gewonnene Zeit nutzt er seither verstärkt mit seiner Ehefrau. Mit dem Familienhund unternimmt das Paar häufig ausgedehnte Spaziergänge und erholsame Ausflüge.