Mönche haben die "Stunden" erfunden
Verrückte Zeit: Heute wird gewonnene Zeit genutzt, statt genossen. Wer Zeit hat, macht sich verdächtig. Zeit haben gilt als Indiz für Drückebergerei. Und Zeitnot ist Zeitgeist.
"Im 17. Jahrhundert schaffte man zu Fuß fünf Kilometer pro Stunde, heute fliegt man 200-mal so schnell um den Erdball", sagt die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter. "Bekleidungsriesen wechseln mittlerweile ihre Kollektionen 14-mal pro Jahr. Daran erkennt man die Beschleunigung in der Welt."
Empfinden der Zeit
Dabei ist Zeit längst nicht Zeit. Es gibt nichts, was Epochen und Kulturen so unterscheidet wie ihr Zeitempfinden. In der westlichen Welt erleben wir Zeit als messbar und linear. Wir versuchen, sie möglichst effizient zu nutzen: Zeit ist Geld. Perfektioniert haben das die US-Amerikaner: Dort gehen und sprechen die Menschen schneller. Laut vergleichender Zeitforschung gehen die Uhren dort genauer, und die Verkaufsgespräche sind kürzer als überall sonst auf der Welt.
Die Klösterbrüder nahmen es allerdings bald genauer – Gebete, Lesungen aus der Heiligen Schrift, Mahlzeiten, Arbeit und Schlaf sollten festen Regeln folgen. Da gab es nur eine Möglichkeit: Die Zeit musste strikt eingeteilt werden. Also wurden die Stunden erfunden – allerdings ganz anders, als wir sie heute kennen.
Erfinder der Zeit
Die Mönche zerlegten jeden Tag und jede Nacht in zwölf exakt gleiche Abschnitte: Der Tag war hell, die Nacht dunkel. Dadurch waren die Stunden je nach Jahreszeit unterschiedlich lang, eine Tag-Stunde etwa dauerte im Sommer bis zu 80, im Winter vielleicht nur 40 Minuten. Gemessen wurde mit Kerzenuhren, Sonnen-, Wasser- und Öllampen.
Ticken der Zeit
Damals entdeckten Theologen eine neue Sünde – die Zeitverschwendung. So verkündete der Dominikaner Domenico Cavalca: "Der Müßige, der seine Zeit verliert, der sie nicht bemisst, gleicht den Tieren und verdient es nicht, als Mensch angesehen zu werden". Etwas radikal Neues hatte sich ins menschliche Denken eingeschlichen: Zeit wurde unabhängig von der Natur und dem Empfinden des Einzelnen, sie war objektiv messbar, nicht mehr göttlich, sondern weltlich.
Und der Einzelne war für den Umgang mit ihr verantwortlich. Der Humanist Leon Battista Alberti (1404–1472) zählte neben Seele und Körper die Zeit zu den drei grundlegenden Besitztümern des Menschen.
Rasen der Zeit
Und hier schließt sich der Kreis zum 21. Jahrhundert: "Heute haben wir Zeit in eine knappe Ressource verwandelt", sagt Winiwarter. "Wir haben rundum alles beschleunigt. Die naturwissenschaftlichen Daten zeigen, dass wir uns seit 1950 in einer Phase des beschleunigten Wachstums auf fast allen Gebieten befinden – Weltbevölkerung, CO2-Ausstoß, Zahl der Telefone, Papierverbrauch, Anzahl der Dämme in Flüssen, Welt-Brutto-Produkt. Nur uns selber können wir nicht beschleunigen." Wir seien viel zu langsam geworden. "Das gibt den Menschen das Gefühl, nicht mehr handlungsfähig zu sein. Ein befriedigendes Leben werden wir also nur dann haben, wenn wir wieder über unsere Zeit verfügen können."
... die Zeit langsamer verläuft, je schneller wir uns bewegen? Wären wir in einem Raumschiff unterwegs, das sich mit hoher Geschwindigkeit bewegt, würden wir langsamer altern.
... das Zeitempfinden je nach Mensch und Lebensalter ganz unterschiedlich ist? Ältere Menschen klagen darüber, dass die Zeit viel zu schnell vergeht. Sie erleben oft nicht mehr viel Neues. Der Alltag, der aus Routine besteht, wirkt wie nicht gelebt und hinterlässt den Eindruck von kurzer Dauer. Dagegen sind Kinder ständig in Bewegung und erleben alles neu. Ein Tag ist voller Erfahrungen und kommt ihnen ewig vor.
... wir kein Organ haben, mit dem wir die Zeit messen? Aktuelle Forschungen zeigen aber, dass Körpervorgänge für unser Gefühl von Zeit sorgen. Herzschlag oder Atmung geben einen inneren Takt vor, an dem zeitliche Muster der Außenwelt gemessen werden.
... man in asiatischen Ländern eine ganz andere Zeitwahrnehmung hat, was auf den Glauben an die Wiedergeburt zurückgeht? Wer glaubt, viele Leben zu haben, nimmt das Hier und Jetzt als Teil eines endlosen Projekts wahr. Christlich geprägte Gesellschaften können dagegen seit der Vertreibung aus dem Paradies nur darauf hoffen, dass die irdische Mühsal nach dem Tod belohnt wird. Folge: Abwertung der Gegenwart.
... die Hopi-Indianer kein Wort für Zukunft und Vergangenheit kennen? Für sie ist alles Gegenwart, in ihren Zeitrhythmen orientieren sie sich an den Vorgaben der Natur. Und bei manchen afrikanischen Völkern verabredet man sich, "wenn die Kühe zum Fluss gehen", statt zu festen Uhrzeiten.
... Kinder bis zum Alter von fünf Jahren mit Zeit gleich umgehen? Erst danach beginnt die kulturelle Differenzierung.