Leben/Gesellschaft

Unter die Haut: Wie wir uns mit der Welt verbinden

Morgens der Griff zum Wecker, Momente später reiben wir uns die Augen, kraulen vielleicht den Kopf des Partners, streicheln das Kind wach, greifen zur Zahnbürste, halten das Frühstücksbrot in Händen und fühlen dessen Kruste.

Jeder Tag beginnt mit Berührung und ist davon erfüllt. Vieles davon geschieht unbewusst – dennoch ist Berühren nicht nur lebenswichtig, sondern auch ein zentrales Kommunikationsmittel, das die Brücke zu anderen bildet. So fühlt der Mensch, erfährt er die Welt – und lernt. Das beginnt bereits im Mutterleib, es ist der Tastsinn, der sich als erstes entwickelt. Und die Haut ist der Ort dieses Tastsinns. Später entsteht daraus eine Art "Haut-Gehirn" – unsere Hülle ist tatsächlich intelligent. Sie lässt uns die Welt begreifen und ermöglicht den Kontakt zu anderen. Zahlreiche Sensoren wandeln dabei mechanische Reize in elektrische Impulse, die wiederum über die Nerven ins Gehirn gelangen. Ein hochsensibles, komplexes System, das es noch dazu schafft, in Sekundenschnelle gute und angenehme Berührungen von gefährlichen oder unangenehmen zu unterscheiden.

Wie Berührung auf Gesunde und Kranke wirkt, hat nun der deutsche Psychopharmakologe Prof. Bruno Müller-Oerlinghausen in einem neuen Buch zusammengefasst. Im KURIER-Interview erzählt, er wie die Haut mit dem Gehirn zusammenhängt und wie wichtig die tägliche Streicheleinheit ist.

KURIER: Zunächst eine ganz pragmatische Frage – Sie sind Experte für Psychopharmakologie. Was hat das mit Ihrem Buchthema Berührung zu tun?

Prof. Bruno Müller-Oerlinghausen: Primär nichts. Aber ich habe an einer Psychiatrischen Universitätsklinik jahrzehntelang eine Spezialambulanz für depressive Patienten geleitet und dort Segen und Defizite der medikamentösen Depressionsbehandlung erlebt und beforscht. Da schließt sich der Kreis zur Psychopharmakologie und zur Körpertherapie als Ergänzung und Alternative.

Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan – bekommt aber zu wenig Aufmerksamkeit. Leben wir in einer berührungsarmen Zeit?

Sicher war lang dauernder enger Körperkontakt bei unseren Höhlenvorfahren häufiger als in unserer Zeit. Ganz besonders – und das ist die Parallele zur Tierwelt – bei der Aufzucht der Kinder. Unsere Lebenswelt ist durch die Technisierung und Beschleunigung aller Lebensvorgänge berührungsärmer geworden – und da werden die in Entwicklung befindlichen Berührungsroboter und Cybersex nicht viel Gutes bringen.

Welche Rolle spielt da die Digitalisierung, oder sagen wir: Berühren wir unsere Ipads und Smartphones schon mehr als andere Menschen?

Ja, die Bedeutung, die das Smartphone in unserem Alltag hat, führt zu einem geradezu zärtlichen Umgang mit diesem Wunderding, das die Hälfte der Menschen angeblich selbst wenn sie Sex miteinander haben, nicht abstellen.

Was passiert genau, wenn wir jemanden berühren und berührt werden?

Berührung "rührt" an tiefe Schichten unseres Körpergedächtnisses, weil schon unsere ersten Sinneseindrücke, noch im Mutterleib, eben Berührung und Selbstberührung waren. Jede Berührung vermittelt eine stumme Botschaft. Und wir begreifen, erfassen die Welt über Berührung. Deshalb war der frühere Slogan in amerikanischen Schulen oder Krankenhäusern/Pflegeheimen "Do not touch!" so schlimm.

Hat die menschliche Haut tatsächlich so etwas wie Intelligenz?

Ja, so etwa wie auch unser Darm. Sie kommuniziert viele Eindrücke von außen nach innen, aber auch unser Seelenleben von innen nach außen. Sie ist also ein differenziertes Kommunikationsorgan. Aber schlussendlich sitzt ihre "Intelligenz" neurobiologisch gesprochen natürlich in unserem Gehirn.

Wie hängen Haut und Gehirn genau zusammen?

Ihr ganz enger Zusammenhang ergibt sich schon aus der Entwicklungsgeschichte: Haut und Gehirn entwickeln sich beim Embryo aus dem gleichen Keimblatt. Die Nähe bestimmter psychiatrischer und dermatologischer Störungen hat hier ihren Ursprung. Das Gehirn speichert und bewertet kontinuierlich die Impulse, die es von unserer Haut empfängt – und das 24 Stunden am Tag.

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Eine wesentliche Rolle spielt das so genannte C-taktile Netzwerk. Was ist das?

Die Bedeutung dieses speziellen Nervenfasernetzes wird seit 20 Jahren erforscht. Es kommt nur bei behaarten Säugern vor, zu denen die Menschen ja gehören. Das C-taktile Netzwerk wird durch ganz bestimmte sanfte rhythmische Berührungen aktiviert. Etwa, wenn wir eine Katze kraulen. Und es vermittelt das Wichtigste einer gekonnten Entspannungsmassage: körperlich-seelisches Wohlgefühl.

Berührung ist ein zentrales Element des Miteinanders. Mit Berührung überschreiten wir aber manchmal auch Grenzen. Wie gelingt es, mit den Berührungsgrenzen eines anderen Menschen sorgsam umzugehen?

Achtsamkeit für das Berührungsbedürfnis oder die Berührungsscheu, auch für die Berührungsgrenzen eines anderen Menschen muss gelernt und erfahren werden. Manche lernen es wohl nie, deshalb ist die Sexualität für manche Paare so unbefriedigend, weil der Partner oder die Partnerin unerfahren in der Kunst der erotischen Berührung ist, die viel Achtsamkeit für den Körper des Anderen benötigt.

Was verstehen Sie unter heilsamer Berührung, wie wird Berührung schließlich zum therapeutischen Instrument?

Professionelle Berührung, zum Beispiel im Bereich der Pflege kann schon in Form von einfachem Handauflegen bei einem Patienten vor einer Narkose oder bei einem alten, etwas verwirrten Heimbewohner stattfinden. Oder aber in Form der von uns "psychoaktiv" (Anm. der Red: auf die Psyche, das Bewusstsein wirkend) genannten speziellen Massagen, die eine besondere Ausbildung erfordern. Deren Wirksamkeit haben wir zum Beispiel bei depressiven Patienten intensiv untersucht, aber auch bei chronischen Rückenschmerzen können sie zum Einsatz kommen.

In diesem Zusammenhang scheint die Rolle des Arztes wichtig. Früher hat er Menschen berührt – heute ist der technologische Zugang im Rahmen der Hightech-Medizin angesagt. Mit welchen Folgen?

Der unbestreitbare Segen der modernen hoch technisierten Medizin und bald wohl auch der Tele-Medizin wird von den Patienten eingefordert. Dennoch sehe nicht nur ich, sondern sehen auch viele Kollegen und Kolleginnen und vor allem die Patienten selbst in den zunehmend seelenlosen Abläufen im Krankenhaus und in manchen Praxen eine bedrohliche Entwicklung, die der Einheit von Körper, Geist und Seele nicht gerecht wird.

Wie können wir wieder mehr Berührungsbewusstsein und Berührungsmut in unser Leben bringen?

Viele Menschen müssen erst einmal wieder lernen, wie wichtig Berührung ist, wie gut sie tut, wie heilsam sie ist. Manche unserer Klienten erfahren das plötzlich, wenn ihnen auf der Massageliege die Tränen kommen und sie nicht wissen, warum. Andere machen eine beglückende Erfahrung, wenn sie ihrem Opa im Heim für längere Zeit die Hände massieren. Wer mutiger ist, auch als Single, versucht es vielleicht einmal mit Teilnahme an einer Kuschelparty oder mit einer speziellen Massage. Und hilfreich wäre wohl auch, wenn wir uns einmal im Umgang mit unserem langjährigen Partner Gedanken machen, ob und wie wir unseren Körperkontakt intensivieren könnten. Oder ob zwei Partner mal gemeinsam in ein Berührungs-Seminar gehen.

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Zur Person: Prof. Bruno Müller-Oerlinghausen

Prof. em. Dr.med. Bruno Müller-Oerlinghausen leitete an der Psychiatrischen Klinik der Freien Universität Berlin eine Forschungsgruppe für Klinische Psychopharmakologie. Er gilt als international anerkannter Experte für Depressionsbehandlung, bei der er körpertherapeutische Methoden eingeführt und wissenschaftlich untersucht hat. Er gehört dem Expertenbeirat für Arzneimittel der Stiftung Warentest an.  Für seine Arbeit wurde ihm im Jahr 2007 die Paracelsus-Medaille verliehen.

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