Warum Berührung so wichtig ist
Von Ingrid Teufl
Die Säuglinge im Findlingsheim waren sauber und gut genährt. Doch für mehr hatten die Pflegerinnen keine Zeit: Kein Kuscheln, kein Streicheln, kein Lächeln. Mit einem Jahr verfügten diese vernachlässigten Kinder nur über einen Intelligenzquotienten von 70, was darauf hindeutet, dass sich ihr Gehirn nicht gut entwickeln konnte. Gleichaltrige, die ihr erstes Lebensjahr im Gefängnis verbrachten, kamen hingegen auf einen durchschnittlichen IQ von 100. Der Unterschied: Sie konnten täglich einige Stunden bei ihren inhaftierten Müttern verbringen.
Mit diesen berühmt gewordenen Untersuchungen sorgte der Psychoanalytiker Rene A. Spitz 1945 für Aufsehen. Er begründete damit den Hospitalismus (auch Deprivationssyndrom): Durch fehlende Zuwendung und Berührung verkümmern Säuglinge. Emotional, aber auch bei der körperlichen Entwicklung kommt es zu schweren Defiziten.
Lebensimpuls
Der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen, auch im Alter. Und wenn etwa die Pflegerin ihrer hochbetagten, bettlägrigen Klientin zwischendurch empathisch den Arm um die Schulter legt, berührt das genauso beide Seiten. Der Körper unterstützt diese Vorgänge sogar biochemisch und schüttet aus der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) das "Kuschelhormon" Oxytocin aus, das auch für Bindung, Liebe und Treue sorgt. Studien zeigen, dass Menschen, die ohne Liebe und Zärtlichkeit leben, unter Oxytocinmangel leiden. Die Umstände der Berührungen verändern sich freilich im Lebenslauf, sagt der Psychologe und Psychotherapeut Eduard Tripp. "Gemeinsam ist ihnen allen, dass da ein anderer Mensch unser Mensch-Sein berührt. Es ist immer eine Begegnung."
Gefühl verloren
Diese Begegnung gelingt uns in unserer schnelllebigen, technologischen Welt immer weniger, bemerkt er. "Wir verlieren zunehmend das Gefühl für uns selbst. Auch die natürliche Sicherheit geht dadurch verloren." Seit 30 Jahren begegnet Tripp seinen Klienten auch als Shiatsu-Praktiker. Bei dieser asiatischen Körperarbeit werden die Energiebahnen des Körpers mit sanftem Druck aktiviert. "Es geht um einen achtsamen Kontakt zwischen dem Gebenden und dem Nehmenden", erklärt Tripp. Im Idealfall könne Letzterer loslassen und sich der ganzheitlichen "Be-Handlung" im wörtlichen Sinn anvertrauen.
Ob Shiatsu oder im Alltag: Auf Berührung muss man sich eben erst einmal einlassen. "In einer Berührung ist man niemals auf Distanz. Das scheuen viele." Die gute Nachricht: Das verloren gegangene Grundempfinden lässt sich neu wecken. Wie das geht, wird in Shiatsu-Kursen für Laien gezeigt (siehe rechts). "Zwangsläufig wird dabei die Körperoberfläche berührt. Aber gepaart mit der Lebensenergie Qi und Aufmerksamkeit kann ich viel tiefer berühren als ohne, auch ohne theoretische Vorkenntnisse."
Rüstzeug
Seit 2003 gilt Shiatsu als eigenständiger, gewerblicher Beruf in Österreich. Die Berufsausbildung zum professionellen Shiatsu-Praktiker wird vom Österreichischen Dachverband für Shiatsu (ÖDS) organisiert. (Infos unterwww.shiatsu-verband. at,www.shiatsu-austria.at). Sie läuft über drei Jahre und umfasst 700 Ausbildungsstunden in Theorie, fernöstlicher Philosophie, Medizin und Psychologie. Ebenso werden moderne westliche körpertherapeutische Ansätze gelehrt. Auch ein Praktikum in einem Krankenhaus ist verpflichtend. Abgeschlossen wird die Ausbildung mit einem Diplom.
Laien-Ausbildung
Den Partner, das Baby oder einen pflegebedürftigen Angehörigen ohne Vorkenntnisse zu berühren kann man in zweitägigen Laien-Kursen des Shiatsu-Verbandes erlernen. Gelehrt werden praktisch einige einfache Techniken für den Körper und die Extremitäten sowie theoretisch die Unterschiede zwischen dem westlichen (anatomischen) und fernöstlichen (energetischen) Weltbild. Der erste Kurs dieser Reihe findet am 31.Mai/1. Juni (10–18 Uhr) bei Oskar Peter (Praxisgemeinschaft Cristalin, Castellezg.15/7, 1020 Wien) statt. Kosten: 220 €, Anmeldung erforderlich.
Mehr Info: www.shiatsu-austria.at