Seelenlast am Arbeitsplatz: Warum die Psyche im Job tabu ist
Montagmorgen. Im Konferenzraum einer deutschen Tageszeitung herrscht reges Treiben. Mitarbeiter strömen in den Glaskobel, um die letzten freien Sitzplätze zu ergattern. Franziska Seyboldt beobachtet das Gedränge aus sicherem Abstand am Ende des Zimmers im Stehen. Menschenansammlungen lösen bei der Deutschen Unbehagen, früher sogar Panik, aus.
Leben mit der Angst
Seyboldt ist seit sechs Jahren Redakteurin bei der taz. Warum Redaktionssitzungen bei ihr zu Herzrasen, Schweißausbrüchen und Schwindel führen, ist nur anfänglich irritierend. Denn die gebürtige Baden-Württembergerin leidet an einer Angststörung. "Als ich beginne, als Redakteurin zu arbeiten, bin ich regelmäßig Chefin vom Dienst, muss in der Konferenz anwesend sein, um die Themen vorzutragen. Andere haben Lampenfieber, ich fürchte, in Ohnmacht zu fallen", schrieb sie 2016 in einem Artikel, mit dem sie ihre psychische Erkrankung öffentlich machte.
Mit ihrem Text traf sie einen Nerv. Die Resonanz bei ihrer Leserschaft war groß, auf ihren Artikel folgten drei Buchpublikationen, zuletzt "Rattatatam, mein Herz" Anfang 2018. Die 34-Jährige steht nicht nur offen zu ihren Angstzuständen und bricht das Tabu rund um psychische Erkrankungen. Sie thematisiert auch psychische Gesundheit im beruflichen Kontext. Ersteres wie zweiteres sind keine Selbstverständlichkeit, bedenkt man, dass über psychische Erkrankungen in der Gesellschaft oft geschwiegen und am Arbeitsplatz so gut wie gar nicht gesprochen wird.
Scham und Schweigen
Kürzlich ergab eine Studie einer britischen Arbeitsvermittlungsagentur, dass der überwiegende Großteil der Arbeitnehmer nicht mit ihren Arbeitgebern über psychische Probleme spricht. Im Gegensatz zu physischen Leiden, die viel öfter besprochen werden. Eine repräsentative Umfrage von marktagent.com zeigte 2016, dass 80 Prozent der Befragten überzeugt sind, dass die psychische Verfassung ihre Arbeitsleistung stark beeinflusst. Für die meisten der betroffenen Arbeitnehmer allerdings kein Grund, daheim zu bleiben. Nur ein Bruchteil geht in den Krankenstand, selbst wenn das Bedürfnis danach groß ist. Dass sich das gesellschaftliche Tabu um psychische Gesundheit auch am Arbeitsplatz fortsetzt, bestätigt Arbeits- und Organisationspsychologin Waltraud Sawczak: "Vorurteile und Halbwissen gibt es nach wie vor in vielen Betrieben. Führungskräfte zeigen mitunter wenig Interesse für die psychische Verfassung ihrer Mitarbeiter, möglicherweise aus einer eigenen Überlastung heraus oder weil sie mit dem Thema nichts anzufangen wissen."
Warum ist eine Erkältung als Krankheit anerkannt, die Depression aber nicht? "Das Hauptproblem ist, dass eine psychische Erkrankung unsichtbar ist. Ein gebrochenes Bein sieht man auf den ersten Blick. Das macht die Erkrankung nachvollziehbar", sagt Seyboldt. Dies führe dazu, dass Betroffenen vorgeworfen wird, sie würden simulieren. Zudem seien psychisch kranke Menschen stark stigmatisiert: "Bei Depressionen nehmen viele Menschen und Arbeitgeber an, dass sie arbeitsfaul sind. Trotz des Erkenntnisstandes, den wir bei Depressionen haben." Tatsächlich sei es oft so, dass sich Betroffene in akuten Phasen in die Arbeit prügeln, weil sie ihre Symptome herunterspielen oder sich schlichtweg nicht trauen, etwas zu sagen. Der Leidensdruck steigt dadurch immens: "Wochenenden und Feiertage müssen für die Regeneration herhalten. Das führt unter anderem zu sozialer Isolation, weil man seine Batterien aufladen muss." Einen Mitgrund für den angstbehafteten Umgang mit psychischen Erkrankungen ortet die Autorin darin, dass es oft vorkommt, dass Betroffene aus fadenscheinigen Gründen gekündigt werden. "Das kann nicht das Zeichen sein, dass Arbeitgeber setzen sollten."
Verantwortung
Nicht selten macht der Arbeitsplatz selbst den Menschen krank. Über eine Million Menschen haben hierzulande laut Arbeiterkammer arbeitsbedingte Gesundheitsprobleme. Psychische Erkrankungen sind dabei auf dem Vormarsch und machen bereits ein Drittel jener Diagnosen aus, die zu einer Berufsunfähigkeits- oder Invaliditätspension führen. Durch Arbeitsausfälle von psychisch Kranken gehen der Weltwirtschaft laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes Jahr 860 Milliarden Euro verloren. Aufgrund dieser Tendenzen wurde auch 2013 das Arbeitnehmerschutzgesetz novelliert und die Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz vorgeschrieben.
Um Arbeitsplätze so zu gestalten, dass Mitarbeiter zu ihren psychischen Problemen stehen können, braucht es laut Sawczak, die an der Universität Klagenfurt als Gesundheitsmanagerin und freiberuflich als Organisationspsychologin tätig ist, in erster Linie Bewusstseinsarbeit mit Führungskräften und arbeitspsychologische Unterstützung in den Unternehmen, "damit Betroffene und Führungskräfte die Hemmschwelle überwinden können".
Toleranz
Redaktionskonferenzen sind für Seyboldt nach wie vor unangenehm, "deswegen stehe ich meistens direkt neben der Tür, damit ich jederzeit gehen kann." Fortschritte hat die 34-Jährige im Umgang mit Konflikten am Arbeitsplatz gemacht, denen sie früher präventiv aus dem Weg ging. Durch eine Therapie kann sie sich besser abgrenzen. Für Betroffene wünscht sie sich, dass ihnen Offenheit und Toleranz zuteilwird – "sowohl vom Chef als auch von den Kollegen".