Muss ich jedes meiner Kinder gleich lieben?
Alle Eltern werden zustimmen, dass die Liebe zu jedem Kind unendlich ist. Aber sie ist nicht immer gleich verteilt, weiß Autorin Nicole Schmidt („Geschwister als Team“): „Das Gefühl, unfair behandelt zu werden, verstärkt den Streit zwischen Geschwistern. Eltern sollten ihren Kindern eigentlich helfen, Konflikte zu lösen, aber das wird schwieriger, wenn sie ein Lieblingskind haben.“
Psychiater Hans Sohni warnt davor, ein Kind deutlich zu bevorzugen: „Langzeitstudien zeigen negative Folgen für benachteiligte Kinder, ohne dass es die Entwicklung des bevorzugten Geschwisters fördert.“ Dem einen Kind fehlt die Anerkennung, die sich alle Kinder von ihren Eltern erhoffen, und das andere erntet die Feindseligkeit der anderen.
E. empfand ihre Position als belastend, erinnert sie sich heute: „Mein Vater hat mir als Jugendliche gesagt, dass ich sein Lieblingskind bin. Das hat mich enorm unter Druck gesetzt.“ Auch B. konnte ihr Nesthäkchen-Dasein nicht genießen: „Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen und habe Zeit meines Lebens um die Zuneigung meiner Schwester gebuhlt“, erzählt sie dem KURIER.
Aber es kommt trotzdem oft vor: Rund 70 Prozent der Mütter und Väter geben in Befragungen wie jener von Soziologin Katherine Conger zu, dass sie ein Kind mehr mögen als das andere. Oft stimmt das Klischee: Papas lassen sich am ehesten von der kleinsten Tochter um den Finger wickeln und Mütter bevorzugen den großen Bruder.
Wie wird man der Favorit?
Die Gründe sind vielfältig, warum Eltern mit einem Kind weniger Verbindung haben –Autor Jeffrey Kluger nennt diese Bevorzugung „favoritism“. Dabei geht es nicht wenig um problematisches Verhalten. Historisch hatte das älteste und damit meist stärkste Kind die meiste Zuneigung und auch Aufmerksamkeit. Doch es kann auch genau umgekehrt sein: Nicht das perfekte, erfolgreiche, starke Kind wird von den Eltern geliebt, sondern jenes, das sie am meisten beschützen wollen. Manchmal sind es auch Wesenszüge, die einen an eine besonders ungeliebte Person erinnern, etwa den Ex-Mann.
Soziologin Jill Suitor fragte Mütter erwachsener Geschwister, mit welchem Kind sie den intensivsten Kontakt haben und mit welchem die meisten Konflikte: „Oft war es dasselbe Kind, ein Mädchen.“
Psychologin Ellen Webber Libby warnt Eltern vor falschen Versprechungen: „Wenn ein Kind dem anderen sagt: „Du bist Mamas Liebling“, widersprechen Sie nicht sofort, vielleicht stimmt es. Oder zumindest nimmt das Kind es so wahr.“ Die Autorin des Buches „The Favourite Child“ stellt die Theorie auf, dass das „goldene“ Kind das Gefühl hat, dass es alles erreichen kann, aber auch kein Nein akzeptiert. Das kann es besonders erfolgreich machen, nennt sie Arnold Schwarzenegger als Beispiel. Das weniger geliebte Kind hat hingegen den Eindruck, dass es nie gut genug sein wird.
Nicola Schmidt betont, dass die Zuneigung sich verändert: mal sei man einem Kind näher, dann dem anderen, Eltern haben meist nicht denselben Favoriten. Ihr wichtigster Tipp gegen die „Liebeskind-Falle“: „Machen Sie sich klar, dass Sie Ihre Kinder unterschiedlich lieben – unterschiedlich stark und auf unterschiedliche Weise.“
Ganz richtig machen kann man es ohnehin nicht, so Conger: „Jedes Kind hat das Gefühl, dass sein Bruder oder seine Schwester es besser hat.“
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