Vom Wissen zum Können
Von Ute Brühl
Fakten in sich hineinstopfen, bei der Prüfung ausspucken und wieder vergessen – Bulimie-Lernen nennen das Pädagogen. Damit soll jetzt Schluss sein. Jetzt wird kompetenzorientiert unterrichtet. So haben sich das zumindest die Architekten der Zentralmatura ausgedacht.
Das wirkt sich natürlich auf den Unterricht aus. Doch nicht immer so, dass die Schüler jetzt mehr verstehen als früher. Das zumindest berichtet Clara, Schülerin einer 8. Klasse AHS: "Unser Lehrer hat gemeint, er sei jetzt unser Begleiter. Das heißt, wir sollten uns den Stoff selbst erarbeiten." Doch so ganz funktioniert das nicht. "Kurz vor der Schularbeit stellt er sich dann doch an die Tafel und erklärt uns alles."
Schwierige Umstellung
Der Physiklehrer Martin Apolin nennt die Idee, "dass endlich nicht mehr für die Schule, sondern fürs Leben gelernt werden soll, die sinnvollste Schul-Maßnahme der vergangenen 30 Jahre". Aus seinem Oberstufen-Lehrgang "Big Bang" ging ein anschauliches Physik-Lehrbuch hervor.
Das ist nicht überall so. Viele Lehrer wissen nicht, was kompetenzorientierter Unterricht in der Praxis bedeutet. Der Grund: "Die Umstellung ging sicher zu schnell", sagt Apolin. "Seriöserweise braucht es fünf Jahre, um so ein Projekt umzusetzen. Erst müssen Lehrplan und Schulbücher geändert werden, dann wird der Unterricht angepasst."
Doch dieser Fahrplan wurde nicht eingehalten. So kam es, dass vor allem in den Naturwissenschaften und in der Mathematik Lehrer unterrichteten, ohne genau zu wissen, welche Kompetenzen zukünftig bei der Zentralmatura abgeprüft werden. Kein Wunder also, dass die Nervosität bei Eltern, Lehrern und Schülern wächst.
"Ich erlebe jetzt häufig, dass selbst routinierte Lehrer rotieren. Die waren früher gelassener, weil sie das Procedere der Matura kannten. Diese Sicherheit gaben sie den Schülern weiter. Jetzt fehlt ihre Gelassenheit." Weitaus besser sieht es zum Glück bei den Fremdsprachen aus. Da gibt es internationale Vorgaben, an denen sich die neue Matura orientiert – den GERS (Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen). Dort ist genau definiert, welches Niveau die Maturanten im Bereich Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben haben sollten. Das sind die Kompetenzen, die bei der Zentralmatura abgefragt werden. Bereits seit Jahren funktioniert das an den AHS-Standorten sehr gut.
Das bedeutet allerdings nicht, dass bei den Sprachlehrern alles klar ist. Wohl auch, weil selbst die Wissenschaft sich nicht einig ist, was Kompetenzen sind.
Was heißt Kompetenz?
Die Lernpsychologin Christiane Spiel hat sich intensiv mit der Frage auseinander gesetzt: "Die Basis für Kompetenz ist das Faktenwissen. Das steht außer Frage. Dieses Wissen muss in die Praxis umgesetzt und auf verschiedene Situationen angewandt bzw. adaptiert werden können. Ich weiß daher, wozu ich das Faktenwissen brauche. Das ist die Basis der Motivation."
Soweit die Theorie. Was das im Alltag bedeutet, erläutert Christiane Spiel anhand eines Beispiels. "Nehmen wir das Multiplizieren. Das Volksschulkind muss nicht nur verstehen, wie es prinzipiell funktioniert, sondern es auch anwenden können. Das heißt z. B. ausrechnen können, wie viel Obst es insgesamt hat, wenn in sechs Kisten je sieben Äpfel liegen. Das Kind sollte dieses Wissen auch auf andere Situationen anwenden können, etwa zur Berechnung der Fläche eines Rechtecks, wo auch multipliziert werden muss."KURIER Schüleranwalt