Leben/Gesellschaft

Forscherinnen: Was es für Chancengleichheit in der Wissenschaft braucht

Publikationen, Preise, Ehrungen, Interviews – ein "Name": Wer in der Wissenschaft Außergewöhnliches leistet, wird belohnt. Was logisch klingt, ist für viele Forscherinnen in der männerdominierten Branche keine Selbstverständlichkeit. Hier kommt Jess Wade ins Spiel: Die britische Physikerin, die am Londoner Imperial College zu polymerbasierten Leuchtdioden forscht, will die akademische Welt von innen verändern. Mit Wikipedia.

Warum sie fast 600 Artikel über Wissenschafterinnen für die Online-Enzyklopädie verfasst hat und was es für gleichberechtigte Wissenschaft braucht, erklärt sie im Interview.

KURIER: Sie haben seit Anfang 2018 knapp 600 biografische Einträge über Wissenschafterinnen geschrieben. Warum?

Jess Wade: Als Physikerin erlebe ich jeden Tag, wie unterrepräsentiert Frauen in der Forschung sind. In Großbritannien sind gerade einmal elf Prozent aller Physik-Professoren Frauen; nur rund 0,5 Prozent sind schwarz. Dieser Mangel an Diversität ist sichtbar und wird einem gleich zu Beginn des Studiums bewusst. Je länger man an der Universität bleibt, umso stärker reduziert sich die Zahl der Frauen um einen herum.

Den konkreten Anstoß für das Wikipedia-Projekt gab das Buch "Inferior" von Angela Saini. Darin schreibt sie über die Hürden, mit denen Frauen historisch in ihrem Zugang zu Bildung und Wissenschaft konfrontiert waren – und über die Stereotype, die sie heute noch zurückhalten. Das liegt daran, dass der Großteil der Menschen die Unterrepräsentation von Frauen in der Forschung auf die Biologie zurückgeführt hat, anstatt auf die Gesellschaft.

Und warum gerade auf Wikipedia?

Ich habe eine Wikipedia-Autorin kennengelernt. Sie hat mir eröffnet, wie mächtig die Plattform und wie einfach es ist, damit etwas zu verändern. Wikipedia wird täglich 32 Millionen Mal von Menschen aus fast allen Ländern der Welt besucht. Die Information, die sie dort finden, wird von einer homogenen Gruppe bereitgestellt: Die Autoren sind zu 90 Prozent weiß und männlich. Sie schreiben eine riesige Menge an Inhalten – nur eben nichts über Wissenschafterinnen. Ich habe es zu meiner Mission gemacht, diesen Frauen dort eine Plattform zu bieten.

Gab es dafür auch Kritik?

Wikipedia-Autoren sehen es nicht gern, wenn man den Status quo angreift. Fängt man an, diversere Artikel, zum Beispiel über eine schwarze Chemikerin, zu schreiben, gibt es Widerstand. Jeder neue Text wird penibelst auf Fehler untersucht. Anfangs wurde ich kritisiert, dass ich meine Texte mit zu vielen Adjektiven ausschmücke – da hat meine Begeisterung für die Wissenschafterinnen überhand genommen (lacht).

Ein weiteres, viel größeres Problem war, dass es schwierig ist, überhaupt zitierbare Quellen über Forscherinnen zu finden. Nicht, weil sie keine bemerkenswerte Arbeit leisten, sondern weil sie etwa in Medien selten vorkommen. All das hat mich zu einer besseren Schreiberin gemacht – und zeitweise sehr frustriert.

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Wie erleben Sie den Alltag in der Forschung? Wo sehen Sie die größten Hindernisse für Frauen?

Jeder erlebt den akademischen Alltag und sein Umfeld anders. Für eine schwarze Wissenschafterin ist es zum Beispiel um einiges schwieriger ist als für eine weiße. Anfangs sind es häufig Stereotype, die einem entgegenschlagen. Beginnt man an der Universität zu arbeiten, befindet man sich plötzlich quasi unter lauter Genies. Dann kommen die Unsicherheiten, Selbstzweifel und das Gefühl, nicht hierher zu gehören. Ich denke, dass Frauen das stärker erleben, eben weil sie in der Minderheit sind.

Hinzu kommt, dass die Wissenschaftskultur auf alleinstehende Männer ausgelegt ist. Das Thema Familienplanung ist für junge Wissenschafterinnen problematisch – aufgrund der Arbeitszeiten, der vielen Reisen und der inadäquaten Kinderbetreuung. Gleichzeitig sind es Männer, die entscheiden, welche Forschungsberichte publiziert werden und wer Fördergelder für seine Projekte bekommt. Neben den alltäglichen Schwierigkeiten wird Frauen ihr Vorankommen also auch durch ein voreingenommenes System verwehrt.

Was muss getan werden, um das zu ändern? Kann eine Quote die Lösung sein?

Ich bin nicht dafür, dass Frauen Jobs bekommen, nur weil sie Frauen sind. Das entwertet sie und ihre Leistung. Viel wesentlicher wäre es, dass Universitäten erkennen, wie relevant Vielfalt in Wissenschaft und Forschung ist. Wenn beispielsweise eine Stelle an einem Institut ausgeschrieben wird, sollte man diese solange offen lassen, bis sich – gemessen am Geschlechterverhältnis im jeweiligen Fachbereich – genügend Frauen gemeldet haben. Das dauert länger, man wählt aber aus den Besten der Besten aus. Aber eben aus einer repräsentativen Gruppe.

Sie arbeiten in Workshops auch mit Schülerinnen und Schülern. Was möchten Sie ihnen mitgeben?

Wir müssen versuchen, mit Schülern, Lehrern und Eltern Stereotype abzubauen. Die schaden Buben wie Mädchen gleichermaßen. Und die Lehrveranstaltungen an den Unis müssen spannender werden. Im Moment wird nicht das ganze Potenzial ausgeschöpft – das ist für alle Studierenden ein Problem, aber vor allem für jene, denen das Interesse an Naturwissenschaften immer abgesprochen wurde. Nicht zuletzt gilt es, Jugendlichen das Ungleichgewicht in der Forschung zu erklären – und sie wissen zu lassen, dass es auch an ihnen liegt, das zu ändern.

Petition: Geschlechtergerechtigkeit auf Wikipedia gefordert

Viele Fragen münden heute in eine Suchanfrage auf dem Online-Nachschlagewerk Wikipedia. Allein die deutschsprachige Ausgabe umfasst aktuell knapp 2,3 Millionen Artikel und wird in etwa 32 Millionen Mal am Tag abgerufen.

Dort ist seit rund zwei Wochen ein Streit über die Dominanz von Männern auf der Enzyklopädie entfacht. Anlassfall war die "Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen", die von der deutschen Autorin Theresa Hannig erstellt wurde. Prompt wurde diese von einem Administrator gelöscht.

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Als Argument für den Löschungsantrag wurde Redundanz genannt, die durch die Liste geschaffen werde. Denn auf Wikipedia sind in der Liste der Autoren auch Autorinnen angeführt. Sucht man dezidiert nach Autorinnen, was Hannig wollte, wird man aufgrund der vorgeschriebenen Nutzung des generischen Maskulinums auf der Plattform nicht fündig. Darin sieht Hannig einerseits ein sprachliches Problem, weil Frauen beim generischen Maskulinum immer mitgemeint sein sollen. Andererseits aber auch ein technisches, weil Suchmaschinen nicht wissen, dass Autorin nach unserem Sprachgebrauch eine Unterkategorie des generischen Maskulinums Autor ist.

Zwar wurde Hannigs Liste mittlerweile wieder hochgeladen, zufrieden geben will sie sich damit nicht. Mit einer Petition namens  #wikifueralle forder sie mehr Geschlechtergerechtigkeit auf Wikipedia. Dazu gehört, die Pflicht zum generischen Maskulinums abzuschaffen und Listen nach Geschlecht sortierbar zu machen. Außerdem hofft Hannig, dass mehr Frauen und nicht-binäre Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau wahrnehmen, in der Wikipedia sichtbarer werden.

Elisabeth Mittendorfer