Leben/Gesellschaft

Ideen für Ihr Kind: Was Kinder spielerisch lernen

Ein Acht-Stunden-Tag ist für Kinder eine Selbstverständlichkeit. Der Job des Kindes ist nämlich das Spiel: Sieben bis acht Stunden verbringen Kinder täglich damit. Spielen und Arbeiten sind zwei Seiten derselben Medaille, erklärt die pädagogische Bereichsleiterin bei den KIWI-Kindergärten, Gudrun Kern. Auf 15.000 „Arbeitsstunden“ kommen Kinder so bis zu ihrem 6. Lebensjahr in Summe.

Das kindliche Spiel ist ihre Art, sich selbst, ihre Mitmenschen und die Welt um sich herum zu entdecken. „Für die Entwicklung des Kindes ist das Spiel deshalb genauso wichtig wie Essen, Trinken und Schlafen“, sagt die Pädagogin.

Spiel ist ein Urtrieb des Menschen: „Eigentlich beginnt es schon im Mutterleib,“ sagt die klinische Psychologin Irene Hirsch. „Wenn der Fötus z. B. den Daumen in den Mund steckt und so seinen Körper entdeckt, fängt es an, seinen Körper freudvoll zu entdecken. Von dieser Entdeckung aus geht es Schritt für Schritt weiter – und die Kinder hören damit nie wieder auf.“

Und das ist auch gut so – eine gute Nachricht für Eltern: „Weil der Mensch so interessiert auf die Welt kommt, können wir darauf vertrauen, dass das Kind das lernt, was es braucht“, sagt Hirsch, Leiterin der Mobilen Dienste der St. Nikolausstiftung, einer Trägerorganisation von

85 Kindergärten in Wien.

Doch die Realität ist leider oft eine andere: Mütter und Väter haben oft Angst, dass sie ihr Kind nicht früh genug fördern. Sie befürchten, ein wichtiges „Entwicklungsfenster“ zu verpassen, wenn es nicht früh genug damit beginnt, Englisch zu lernen, Ballettstunden zu nehmen oder Flöte zu üben. Das ist ein Grund, warum heute fast kein Kindergarten mehr ohne Zusatzangebot auskommt.

Bitte nicht stören

Laut Hirsch ist das zwar gut gemeint, aber nicht unbedingt gut: „In solchen Kursen werden die Kinder ständig unterbrochen. Dabei ist es so wichtig, dass die Buben und Mädchen in Flow-Erlebnisse beim Spielen kommen. Sie sollen Freude daran haben, etwas selbst zu entdecken und etwas zu schaffen. Deshalb ist gelenktes Lernen so kontraproduktiv.“

Heißt: Lieber die Kinder stundenlang mit Bechern das Wasser hin und her schütten lassen, als sie zu einer bestimmten Uhrzeit in einen Förderkurs zu stecken.

Bedeutet das jetzt, dass man die Kinder gar nicht lenken darf und soll? Ganz so einfach ist es nicht. „Erwachsene können die Kinder unterstützen, indem sie die Spiel- bzw. Lernumgebung gestalten. Also Puppenküche, Bobbycar oder einfach nur ein paar leere Schachteln parat halten, damit das Kind das tun kann, was es gerade selbst interessiert“, rät Irene Hirsch (siehe auch Grafik unten).

Von Lernspielen hält die Pädagogin wenig – ganz besonders für Kindergartenkinder: „Sie machen diese zwar brav, weil sie den Erwartungen der Eltern entsprechen wollen. Doch ein solches Lernspiel ist lange nicht so effektiv, wie wenn sie sich ihrem selbst gewählten Spiel hingeben.“

Der berühmte Pädagoge Jean Piaget erklärte das einst so: „Alles, was wir die Kinder lehren, können sie nicht mehr selbst entdecken und damit wirklich lernen.“

Die Aufgabe der Kindergartenpädagogen oder Eltern ist eine andere: „Die pädagogische Kunst besteht darin, das Spiel

zu beobachten: Womit beschäftigt sich das Kind? Wo hakt es gerade?“

Schneebesen

Am elegantesten ist es, den Kindern etwas anzubieten, damit sie im Spiel den nächsten Schritt machen können. „Wenn der oder die Kleine gerade ,kocht‘ , könnte man zum Beispiel einen Schneebesen, ein Schneidbrett etc. dazulegen“, gibt die Expertin ein Beispiel. Und noch einen guten Rat hat die klinische Psychologin parat: „Schreiten Sie nicht ein, wenn das Kind nicht weiter weiß, sondern werden Sie Teil des Spiels. Stellen Sie dabei Fragen wie: ‚Was willst du als Nächstes machen?‘“

Es geht beim Spiel also immer auch ums Lernen – und das auf allen Ebenen: emotional, sozial, kognitiv und motorisch.

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Seine Gefühle entdecken

Die emotionale Kompetenz ist dabei die Basis allen Lernens. Denn eine wichtige Gefühlsregung beim Entdecken der Welt ist die Freude, wie der Hirnforscher Gerald Hüther erläutert. Wenn ein Kind es zum Beispiel schafft, das erste Mal einen Löffel selbst zu greifen, werden im Gehirn Botenstoffe freigesetzt, sodass das Neugelernte in Form von neu aufgebauten Netzwerken verankert wird. So bleibt das Gelernte lange hängen.

Doch nicht nur Freude gehört dazu: „Frustration zu ertragen, ist ein wesentlicher Teil des spielerischen Lernens. Das kann jeder feststellen, der schon einmal ein Kind dabei entdeckt hat, wie es Gehen lernt“, sagt KIWI-Pädagogin Kern. Auch Ausdauer und Belastbarkeit sind Faktoren, die eine wesentliche Grundlage für das spätere Lernen sind – auch für das schulische.

Die Aufgabe der Eltern ist es, den Kindern dabei zu helfen, ihre Gefühle zu benennen. Das beginnt schon im Babyalter, wenn man dem schreienden Säugling erklärt: „Du hast jetzt sicher Hunger.“ Ganz eng verknüpft mit dem emotionalen Lernen ist das soziale Lernen.

Der Streit ums Schauferl

Sitzen Ein- oder Zweijährige gemeinsam in der Sandkiste, so spielt noch jedes Kind für sich: „Parallel-Spiel“ nennen das die Experten. Will jeder der beiden die Schaufel, sind Streit und Geschrei vorprogrammiert. Erst ab 3 bis 4 Jahren üben sie sich darin, Dinge auszuverhandeln und auch selbst Regeln einzuführen. „Es ist interessant zu sehen, wie im Kindergarten Regeln ausprobiert und auch gesucht werden“, verrät Irene Hirsch.

Ein ganz wesentlicher Weg des sozialen Lernens sind deshalb auch Rollenspiele, wie Gudrun Kern sagt: „Da lernen sie, sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen – die Freude, die Wut oder den Ärger zu verstehen.“

Wenn Ihr Kind also stundenlang „Vater, Mutter, Kind“ oder „ Polizei“ spielt, brauchen Sie keine Angst zu haben, dass das verschwendete Zeit ist. Im Gegenteil. Überhaupt – so findet Irene Hirsch – sei es ärgerlich, dass unsere Gesellschaft einen Gegensatz von Spielen und Lernen konstruiert hat.

Sich ausdrücken

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Wollen Kinder miteinander spielen, ist die Sprache ein essenzieller Faktor – ohne sie können die Kinder sich und ihre Umwelt nicht beschreiben. Sprache ist also wichtig, auch wenn „die Jüngsten gemeinsames Spiel auf vielen Ebenen der Kommunikation schaffen – da geht vieles ohne Worte“, sagt Hirsch.

Die Sprache lernen Kinder indem sie mit Mutter, Vater, Opa oder Tante in Beziehung treten. Einfache Reime wie „Das ist der Daumen ...“ helfen dem Kind, seinen eigenen Körper benennen zu lernen. „Und auch Begriffe wie oben und unten müssen von Eltern oder Geschwistern benannt werden, damit sie vom Kind begriffen werden“, sagt Kern.

Oben und unten

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Wer verstehen will, was oben und unten ist, der muss sich natürlich selbst bewegen und selbst erfahren, wie es ist, auf einem Sessel zu stehen und sich dann wieder unter ihm zu verkriechen. Allerdings: „In der motorischen Entwicklung haben viele Kinder Probleme“, weiß Hirsch. Das sei besonders in der Stadt ein Thema, wo es für die Eltern oft aufwendig ist, zum nächsten Park zu gehen. „In unseren Kindergärten gibt es deshalb, wenn möglich, immer Bewegungsräume. Und manches kann man auch im Gruppenraum machen – genauso wie in einer Wohnung“, berichtet Hirsch. „Wir schauen, dass die Kinder sich so bewegen können, wie sie wollen – krabbeln, hüpfen, klettern. Und wir trauen ihnen etwas zu, lassen sie ausprobieren.“ Das sei wichtig, um sich und seine Grenzen zu spüren.

Doch viele Eltern haben Angst, dass sich ihre Kinder blaue Flecken holen oder noch schwerer verletzen. Ein Fehler, wie auch der Ernährungsmediziner Kurt Widhalm betont: „Ein gebrochener Arm ist langfristig weitaus weniger schlimm als eine Diabetes.“

Der wichtigste Rat heißt also: Lassen Sie Ihr Kind spielen. Es lernt dabei für seine persönliche Entwicklung, für die Schule und für sein ganzes Leben.

Verlieren lernen

Sie müssen zum Beispiel lernen, mit Niederlagen umzugehen: Viele Eltern sind ratlos, wenn ihr Nachwuchs überhaupt nicht damit umgehen kann, dass er nicht als Sieger vom Platz geht. „Verlieren können, bedeutet immer, die eigenen Bedürfnisse zurückstellen zu können. Das ist ein Entwicklungsprozess“, weiß Gudrun Kern.

„Es ist für die Entwicklung eines Kindes förderlicher, wenn vor allem Kooperationsspiele angeboten werden und nicht Spiele gespielt werden, bei denen es immer Gewinner und Verlierer gibt“, sagt Irene Hirsch – so zum Beispiel „Obstgarten“ oder „Tempo, kleine Schnecke“.

Denn das Spiel ist eine Situation, in der das Kind Sicherheit braucht – ausreichend Zeit, eine sichere Atmosphäre und eine vertrauensvolle Beziehung. „Erst wenn das Kind diese Basis und die Sicherheit hat, kann man im Alter von vier oder fünf Jahren mit Spielen beginnen, bei denen es auch ums Verlieren geht“, sagt Hirsch.

Und wenn Sohn oder Tochter traurig sind, weil der Würfel nicht auf das erhoffte Symbol fällt, so ist es auch in Ordnung, wenn Wut entsteht. „Dem Kind zu sagen: ‚Verlieren gehört dazu‘, ist nicht der richtige Weg“, sagt Kern. „Zeigen Sie viel mehr Verständnis für seine Gefühle.“