Ukraine-Hilfe: Zehn Esslinger an einem Tisch
Miteinander reden, lachen, essen, trinken – und voneinander lernen. Die Stimmung rund um den Esstisch in Wien-Essling ist gut. Die fünf Madsens teilen ihn seit bald zwei Monaten mit den fünf Mykhailovas. Und dazu ihr geräumiges Haus.
Manchmal ist es auch so, dass sie gemeinsam weinen. Etwa wenn die beiden Schwestern Mariia (36) und Viktoriia Mykhailova (34) Fotos auf ihren Mobiltelefonen herzeigen. Die Fotos zeigen die Wohnungen der beiden Frauen in der ostukrainischen Stadt Charkiw. Nach Granattreffern ist von ihren eigenen vier Wänden nicht viel übrig geblieben: Skelette aus Stahlbeton, die sie nie wieder betreten werden können.
„Danke, dass ihr uns aufgenommen habt“, sagt Mariia Mykhailova, Associate Professorin für Marketing in Agrarwissenschaften, zu ihren neuen Freunden in Wien-Essling.
Dabei waren sich Stefanie und Georg Madsen vorab nicht sicher, ob es denn richtig ist, ihrem Herzen zu folgen. Stefanie erzählt heute: „Ich habe zuerst meinen Mann gefragt, ob wir unsere freien Zimmer zur Verfügung stellen wollen. Und er war sofort dafür.“ Er ergänzt: „Wir haben dann unsere Kinder gefragt, die waren auch sofort dafür.“
„Jetzt mehr Leute im Haus“
Ihr Ältester, Eskil Madsen (13), ist zufrieden: „Es sind jetzt mehr Leute im Haus, die mit uns gerne spielen.“ Seine jüngeren Brüder, Rasmus (11) und Mikkel (7), nicken zustimmend
Die beiden Buben meinen damit in erster Linie Sofiia (16), Tochter von Mariia, sowie Vladislav (13) und Yaroslav (11), Söhne von Viktoriia.
Sofiia, das älteste Kind im Hause Madsen-Mykhailova, kümmert sich um die Jüngeren. Stolz trägt sie die dunkelblaue Uniform der Hertha-Firnberg-Schule für Wirtschaft und Tourismus. Angesprochen auf die Schule, berichtet sie: „Meine neuen Mitschüler sind großartig – alle helfen mir, alle sind nett, die Lehrer auch, und vor allem die Frau Direktorin, eine echte Lady, die mir auf allen Ebenen hilft.“
Absolut dankbar ist auch sie den Madsens: „Wunderbare Menschen, die uns ihr schönes Haus geöffnet haben, und viele andere Türen.“ Für sie zum Beispiel wurde spontan ein Praktikumsplatz in einem Familienhotel in Südtirol organisiert, wo sie über den Sommer in alle Bereiche des Hotelbusiness reinschnuppern und ihre Sprachkenntnisse weiter verbessern kann.
Sofiias Mutter hält weiterhin Vorlesungen, online. Ihre Studenten sind über die halbe Ukraine verteilt, die Studentinnen über halb Europa. Zwei sitzen noch in einem Keller in Charkiw und haben oft schlechtes Internet. Für ihren Gast haben die Madsens mit einem Professor der Universität für Bodenkultur ein Stipendium erwirkt. Ihr Fachwissen über ukrainische Agrarwirtschaft ist dort sehr willkommen. Was für eine Wendung: „Wir wollten zuerst nur für eine Woche weg von daheim.“
Wo Gutes ist, kommt manchmal mehr Gutes zusammen: Auch beim benachbarten SV Essling und in der Ortsgemeinschaft gab es zusätzlich große Hilfsbereitschaft. Vladislav und Yaroslav dürfen beispielsweise mit den Esslinger Gleichaltrigen am Fußballtraining teilnehmen. Den beiden gefällt die Schule in der Seestadt „fast besser als zuhause“.
„dyakuiu“ und „troshky“
Und was meinen die, die mehr als nur ihr Herz geöffnet haben? „Jeder hilft auf seine Art“, betont Georg Madsen. Der gut in sich ruhende Chemie-Professor der Technischen Universität Wien sieht sich nicht als Held dieser Tage. „Bei uns hat sich das halt gut ergeben“, attestiert auch seine Frau Stefanie, die ebenso an der TU als Personalentwicklerin arbeitet. Einig sind sich die beiden, dass sie von ihren Mitbewohnern emotional mehr zurückbekommen als sie selbst investiert haben.
Das beginnt bei neuen Wörtern (von „dyakuiu“ für „Danke“ bis zu „troshky“ für „bitte nur wenig“) über bisher nicht gekannte Gerichte wie Blini (Palatschinke) oder Mangal-Schaschlik bis hin zu Impulsen für ihre drei Söhne, die mit ihren neuen Freunden Fußball, Volleyball, Karten und Brawl Stars spielen.
Angesichts der nicht abreißen wollenden Bombardements auf die Ostukraine und der Zerstörung der Lebensgrundlagen gibt es auch keine Fristen. Stefanie Madsen legt sich fest: „Sie können bei uns bleiben, solange sie das möchten.“
Wünschen würde sie sich, dass der Krieg bald beendet wird, und wenn schon das nicht realistisch ist, dass wenigstens die Hilfsbereitschaft in der Europäischen Union und in Essling nicht bald versiegt.
KURIER-Hilfsaktion: Weiterhin können Sie für die „KURIER Familienhilfe Ukraine“ spenden: Online jederzeit unter kurier.at/familienhilfe oder aber per Erlagschein vom Roten Kreuz, bitte unter dem Kennwort „KURIER Familienhilfe“.
Wohnraum: Wer Flüchtlingen Wohnraum für mehrere Monate zur Verfügung stellen möchte, kann sich jederzeit bei der Diakonie melden: wohnraumspende-ukraine@diakonie.at bzw. telefonisch unter 0664 / 886 328 20.