Seine zweite Chance: „Die Paralympics sind mein Ziel“
Wenn er die kleine weiße Kugel mit dem Schläger sehr gut trifft, und er trifft sie an diesem Nachmittag im Hobbyraum einer Wohnsiedlung in Wien-Donaustadt sehr oft sehr gut, dann bleibt seiner Mutter oft nur das Nachsehen. Aber auch Dankbarkeit.
Henrik Andersson, angestellt im Innenministerium, genauer gesagt im Cybercrime-Competence-Center in Praterstern-Nähe, arbeitet hart an seinem Comeback. Und es ist klar zu erkennen: Er hat Freude dabei.
Er war talentierter Landhockey-Spieler und gerade einmal zwanzig, als er unbeschwert, unüberlegt durchs Leben ging. 1000-mal geht das bei Kindern gut. Wissen Eltern. Das eine andere Mal ist ein Unglück. Es traf Henrik und seine Familie.
„Ich kann mich an nichts mehr erinnern“, erzählt der 26-Jährige in einer kurzen Trainingspause. Ein Faktum ist, dass er dem Fahrer der U2 keine Chance ließ. Eine zarte Narbe, oberhalb der Augenbrauen beginnend und unter dem Haaransatz verschwindend, erinnert daran: „Ich hatte großes Glück.“
Die Liste all der notoperierten Knochen und Wirbel, der Schrauben und Platten in seinem Körper ist lang. Henrik Andersson hatte gleich mehrere Schutzengel: „Bei denen ich mich bedanken möchte.“
„Wir sind sehr stolz auf ihn“
Seine Mutter, Elena, war in jungen Jahren eine passable Tennisspielerin. Heute kann sie auch mit kleinerem Schläger gut umgehen. Ihr Sohn hat sie und ihren Mann auf eine Probe gestellt. Hat sie zugleich viel Neues lernen lassen. Längst gibt er dafür etwas zurück: „Er hat nach dem Unfall sehr schnell reifen müssen. Er hat sich kein einziges Mal beklagt. Im Gegenteil. Er weiß genau, dass er eine zweite Chance bekommen hat. Mein Mann, sein älterer Bruder und ich, wir sind sehr stolz auf ihn.“
Eine Träne läuft jetzt über ihre Wange. Doch es ist auch eine Träne der Freude: „Ich bewundere ihn, es ist schön zu sehen, wie konsequent er seine gesteckten Ziele verfolgt.“
Sein größtes Ziel ist ganz klar Los Angeles. Dort sollen im Sommer 2028 die Olympischen und auch die Paralympischen Spiele ausgetragen werden. Der Kriminalbeamte im Rollstuhl sagt ohne Wenn und Aber: „Es wäre für mich ein Traum, bei der Eröffnungsfeier dabei zu sein.“
Gemeinsam mit seiner Trainerin Doris Mader, die auch sein Vorbild ist („Sie hat Silber bei den Spielen 2012 in London geholt“), verfolgt er einen längerfristigen Plan: „Beim Tischtennis sind Talent und viel Training wichtig, aber nicht alles. Du brauchst darüber hinaus auch internationale Erfahrung. Das heißt, dass ich geduldig bleiben muss.“
Kurz, ganz knapp übers Netz, dann wieder lang, scharf Richtung Kante des Tisches: Konzentriert, ehrgeizig feilt Henrik Andersson auch heute an den Varianten seines Services. Die Präzision, die sich durch unzählige Wiederholungen einstellt, soll auch bei Wettkämpfen spielentscheidende Vorteile bringen.
Fünf- bis sechsmal pro Woche trainiert der Sohn eines Schweden und einer aus der Slowakei stammenden Norwegerin, die sich beide heute in Wien zu Hause fühlen. Meistens spielt Henrik mit seiner Trainerin, nur im Lockdown hat er mit seiner Mutter täglich trainiert. Heute kann er sich endlich wieder mit befreundeten Spielern messen. Ernst nimmt der Sportler auch die regelmäßigen Einheiten mit seinem Physiotherapeuten sowie mit einem norwegischen Mentalcoach.
Die Mühe lohnt sich: Schon zweimal gewann Henrik Andersson die Staatsmeisterschaft in der Klasse 4. In dieser Leistungsstufe können die Spieler unterhalb des Bauchnabels ihre Muskeln nicht ansteuern.
Bei Weltranglisten-Turnieren in Italien, Slowenien und dann in Tschechien, die ordentlich viel Geld kosten, möchte er sich heuer an die Weltspitze herantasten.
Seine ehrliche Überzeugung
Erstmals richtig Tischtennis gespielt hat Henrik Andersson bei seiner mehrmonatigen Reha, im Jahr des Unfalls auf dem Weißen Hof. Sich aufgeben war damals und ist auch heute keine Option für ihn.
Im Gegenteil: „Gerne würde ich mehr Menschen davon überzeugen, dass sie ihr Leben als eine Chance begreifen sollen, und dass es schön ist, seiner Leidenschaft zu folgen.“
Seine Geschichte: Henrik Andersson, 1996 geboren, wollte Polizist werden. Heute arbeitet er im Innenministerium. Er ist zweifacher Staatsmeister im Rollstuhl-Tischtennis.
Sein Angebot: Allen Interessierten gibt er Einblicke in sein Spiel sowie seine Bedürfnisse. Mehr Infos hier.