Braucht es ein Schulstartjahr mit fünf?
Bis Herbst dürfen die Kinder spielen, basteln und das tun, worauf sie Lust haben. Im September fängt der "Ernst des Lebens" an. Lesen, Schreiben, Rechnen, Sitzen. So das Klischee und auch die Vorstellung vieler Kinder über die Schule. Um den Übergang vom Kindergarten in die Schule "fließend zu gestalten", schlägt die Industriellenvereinigung in ihrem neuen Bildungskonzept ein Startschuljahr vor.
Dieses soll in enger Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Schule die sprachlichen und sozialen Fähigkeiten der Kinder fördern. Für die Inhalte ist die Schule verantwortlich – und nicht der Kindergarten. Die Kompetenz für Vorschulkinder würde somit beim Bund und nicht mehr bei den Ländern liegen. Der Aufschrei der Kindergartenpädagogen kam prompt: "Keine Schule für Fünfjährige." Die Industriellenvereinigung beschwichtigt jetzt: "Die Einschulung soll natürlich wie bisher mit sechs Jahren erfolgen. "
Kindergärten versus Schule: Wer hat die besseren Konzepte? Die Elementarpädagogen können sich einen Seitenhieb auf die Lehrer nicht verkneifen: "Die Schule täte gut daran, einen Blick in den Kindergarten zu werfen und das elementare Bildungskonzept, dem das forschende Lernen zu Grunde liegt, für die Schule zu nutzen", sagt Susanna Haas, pädagogische Leiterin der St. Nikolausstiftung Wien. Dazu bräuchte es aber dieselbe Basisausbildung für alle Pädagogen – Lehrer wie Kindergärtner, betont Raphaela Keller vom Bundesverband der Kindergarten- und Hortpädagogen. Und die gibt es derzeit nicht.
Vorschule heute
Die Verantwortung für die Fünfjährigen müsse im Kindergarten bleiben. Darin sind sich so gut wie alle Experten einig. "Wir haben hier die Kompetenz", sagt Haas. "Was Kinder im Kindergarten lernen, ist zudem im Bildungsrahmenplan festgeschrieben." Doch all das gibt man ihnen nicht nur im Vorschuljahr mit, sondern über einen längeren Zeitraum. Nachsatz: "Deshalb schaffen wir es auch nicht, in einem verpflichtenden Kindergartenjahr, alle Defizite aufzuholen, die ein Kind hat." Denn es ist sehr viel, was ein Kind können sollte, wenn es in die Schule kommt: "Sprechen, sich längere Zeit auf eine Sache konzentrieren, Rücksicht nehmen, einen Stift halten oder die gute Arbeitshaltung mitbringen."
Eigene Lernstunden, in denen Kinder das trainieren, lehnt Haas ab: "Wir wollen den Kindern Angebote machen." So hält es auch Kindergärtnerin Karin Leitenmaier. Sie arbeitet in einer Familiengruppe von drei bis sechs Jahren mit und betreut die Vorschulgruppe "Maxi-Club", die den Kindern täglich zwei Stunden offensteht. Die Kinder dürfen, müssen ihn aber nicht besuchen.
Die Welt entdecken
Arbeitsblätter für die Vorschule – wie sie früher üblich waren – gibt es dort nicht. "Wir machen kleine und größere Projekte. Wir schauen uns Verkehrszeichen an und gehen dann zusammen hinaus auf die Straße. Jetzt arbeiten wir in Kleingruppen mit Farben und Formen", erzählt Leitenmaier. Dauernd still sitzen, müssen die Kinder nicht: "Wir bewegen uns mit den Kindern, weil ihre Konzentrationsphasen so automatisch länger werden."
Die Pädagogen müssen immer die Kinder im Blick haben: "Wir beobachten sie und bereiten die Räume so vor, dass sie mit Freude lernen können. Die Kinder lieben es zum Beispiel, mit der Lupe oder mit Magneten zu arbeiten", sagt Leitenmaier. Ihr Resümee: "Im Kindergarten wird meist individueller gearbeitet als in der Schule. Der Betreuungsschlüssel ist oft besser, da können die Kinder in ihrer Entwicklung differenzierter unterstützt werden." Auch das Lernklima ist anders: " In der Schule erleben sie oft einen Bruch. Dort sind sie viel mehr mit richtig oder falsch konfrontiert und mit Benotungen." Womit wir wieder bei Susanna Haas wären: Die Schule sollte vom Kindergarten lernen.
Fünf Fünfjährige erzählen:
Über die beste Bildung wird viel geredet. Doch was sagen die Betroffenen selbst? Der KURIER hat sich umgehört.
Dana freut sich auf die Hausaufgaben
„Ich freue mich auf die Schule, weil ich dort Schreibschrift lerne. Meinen Namen kann ich schon, aber eben nicht in Schreibschrift. Früher konnte ich noch nicht mit dem Stift schreiben, da habe ich mit dem Finger in den Sand geschrieben, aber jetzt geht das schon. Rechnen und zählen macht mir auch Spaß.
In der Schule kann ich dann den ganzen Tag sitzen, dort habe ich einen eigenen Tisch. Denn vom Herumlaufen werde ich jetzt immer so müde. Und in der Pause kann ich machen, was ich will, und alleine in den Garten gehen. Manche Klassen kenne ich schon, weil meine Geschwister in die Schule gehen. Am meisten freue ich mich auf die Hausaufgaben.“
„Jetzt spiele ich oft mit meinem Bruder Schule. Er geht schon in die dritte Klasse und bringt mir gerade Buchstaben und Rechnen bei. Bei Zahlen bin ich der Beste. Am Wochenende gibt er mir eine Hausübung. Die ist babyleicht. Von ihm weiß ich schon, wie es in der Schule ist: Man lernt lesen, und man muss immer gut zuhören. Noch mehr als im Kindergarten.
Weil ich jetzt in eine Vorschule gehe, habe ich schon eine Schultasche und eine Jausen-Box.
Am liebsten habe ich die Bücher mit dem Tiptoi-Stift, da kann meine Mama mir vorlesen, und ich kann mir mit dem Stift selbst etwas anhören oder ein Quiz machen.“
Saba mag Bücher und den Globus
„Die Schule wird sicher spannend. Ich werde richtig schreiben und rechnen lernen – das mache ich besonders gern. Im Kindergarten spiele ich am liebsten mit Saschka und Hakan , auch Theater. Ich liebe es, den Unterschied zwischen zwei gleichen Bildern zu finden. Ich kann jetzt schon viel zeichnen: Spinnen, Häuser, Blumen, Schmetterlinge, Bienen oder Bäume. Auch lesen kann ich schon gut – auf persisch und deutsch. Sogar ein paar Sätze kann ich schreiben. Zu Hause mache ich die Aufgaben, die ich im Persisch-Unterricht bekommen habe, und schaue den Globus an. Mein Lieblingsbuch handelt vom Atlantik.“
„Im Kindergarten spiele ich jetzt am liebsten mit meinen Freunden im Bewegungsraum. Und wir machen 500er-Puzzles und basteln Armbänder. Mit meiner Kindergärtnerin spiele ich am liebsten Pyramiden-Bauen. In der Ruhestunde liest sie uns etwas vor oder schaltet Klaviermusik ein.
Von meinem Bruder, der in die dritte Klasse geht, weiß ich schon viel über die Schule: Dort muss ich lesen und schreiben, dort werde ich rechnen lernen und dort muss ich brav sein. Ein bisschen etwas kann ich schon, das man in der Schule lernt: Ich kann schon minus rechnen und ich kann plus rechnen. Jetzt lerne ich Klavier spielen. Mein Lieblingsbuch ist Captain Sharky, da geht es um einen Piraten und einen Schatz.“
„Ich mag den Kindergarten, weil ich dort so viel machen kann. Für uns Vorschulkinder gibt es nämlich eigene Gruppen, die man besuchen kann. Ich gehe am liebsten in die Pinsel-Insel. Dort basteln wir sehr viel. Wir lernen auch viel über andere Länder, zum Beispiel über Österreich. Das macht mir Spaß. Ein bisschen lesen kann ich auch schon. Am liebsten habe ich aber, wenn meine Mama mir eine Geschichte vorliest. Ronja Räubertochter hat mir sehr gefallen.
Diese Woche habe ich mir auch schon die Schule angeschaut, in die ich gehen werde. Ich freue mich schon darauf. Da werde ich sicher richtig schreiben lernen. So wie meine großen Brüder.“
In der Montessori-Schule lernen Kinder früher
Für Montessori-Pädagogen ist klar: „Kinder fangen mit etwa vier Jahren an, sich für Buchstaben zu interessieren. In dieser sensiblen Phase können sie mit den richtigen Materialien schreiben und lesen lernen“, sagt Saskia Haspel, Mitbegründern des Montessori-Zentrums in Wien. Heute unterrichtet sie, wie man Kinder richtig in ihrem Lernprozess unterstützen kann. „Die Kleinen haben in diesem Alter viel Geduld und Begeisterung, sich mit dem Thema, das sie interessiert, immer wieder zu beschäftigen. Sie lieben die Wiederholung.“
Vom Erkennen der einzelnen Buchstaben zum Lesen ist es ein Riesensprung. „Man kann dem Kind dabei helfen. Doch erzwingen lässt sich dieser Schritt nicht. So wie man ein Baby nicht dazu bringen kann, sein erstes Wort zu sprechen.“
Im Alter von etwa fünfeinhalb Jahren könnten viele Kinder bereits kurze Texte schreiben, „natürlich nach dem Gehör und nicht nach Rechtschreibregeln“ .
Wiederholen als Spiel
Etwa bis zum Alter von sechs Jahren dauert die Begeisterung für das Wiederholen an, dann beginnt die Phase des Forschens. „Danach können Kinder auch Schreiben lernen, aber üben und wiederholen ist nicht so spielerisch und leicht. Lernen ist dann eine bewusste Entscheidung.“
Ein Schuleintritt vor sechs Jahren widerspricht der Montessori-Pädagogik: „Im dritten Jahr im Kinderhaus sind die Kinder die ältesten und geben ihre Erfahrung an die Jüngeren weiter. In einem ähnlichen Rhythmus geht es in der Schule weiter: In Mehrstufenklassen lernen jeweils drei Jahrgänge zusammen.
Vorschule in Frankreich und England
Mit drei Jahren kommen französische Kinder in die Schule, die „école maternelle“ – wörtlich übersetzt: die „mütterliche Schule“. Doch sehr familiär ist das System nicht, weiß Nina Moïse, österreichische Mutter zweier Kinder in Paris: „Sie haben ein Bildungsprogramm, bei dem es um Buchstaben und Zahlen geht, aber auch um Themen wie Umgehen mit der Zeit, Eigenverantwortung und Selbstständigkeit. Die Kinder bekommen am Jahresende meist ein Zeugnis.“
In den Klassen gibt es kleine Tische, eine Tafel, im Tagesprogramm gibt es einen Morgenkreis. Im letzten Jahr vor der eigentlichen Schule lernen die Kinder lesen und schreiben. „Es gab sogar Diktate in der Vorschulklasse“, erzählt Moïse. Für ihre Tochter war das Lernen eine Herausforderung, aber sie kennt Kinder, „bei denen die Lehrerin mehr Einsatz beim Lernen gefordert hat“.
Unterschiede zum Schulunterricht gibt es trotzdem: „Ab der Volksschule gibt es Schulbücher und nach dem Unterricht bis 16.30 Uhr auch Hausübungen.“ Zeit zum Durchatmen bekommen die Kinder am Mittwoch, wenn landesweit der Nachmittag frei ist. Dafür hat ihr Sohn einen besseren Vorschlag: „Er meint, es sollte jeden zweiten Tag Schule geben – nur zum Amüsieren. Von mir wollte er wissen, mit wem er das besprechen kann. Mit dem Präsidenten. Da hat er gefragt: Wie komme ich zum Präsidenten?“
Unterschiedliche Entwicklung
Früh geht es auch in England los, weiß Ariella Woolf. Die Kinder der gebürtigen Wienerin mochten die Vorschule gerne, „im Kindergarten war ihnen fast schon langweilig. Dort gibt es weniger Förderung als in Österreich, weil sich alles auf die Vorschule konzentriert“, beobachtet sie. Die Kinder lernen spielerisch schreiben und lesen, „ein Mädchen hat meinem Kind damals einen Brief geschrieben.“
Für ihre Herbst-Kinder war der Einstieg ideal, doch jüngere Kinder waren teilweise überfordert: „Es gehen alle Kinder hin, die in dem laufenden Schuljahr fünf Jahre alt werden. Das heißt, manche beginnen die Schule mit vier. Da gibt es riesige Unterschiede in der Entwicklung. Sie lernen ein Jahr lang das, was sie woanders in der ersten Klasse in wenigen Monaten schaffen.“
Forschung: Warum frühe Einschulung nichts bringt
In Frankreich müssen schon Dreijährige stundenweise die Schulbank drücken. In den Niederlanden, die der Industriellenvereinigung als Inspiration für ihr Konzept dienten, gehen Kinder mit fünf Jahren in die „Basisschule“ – eine Mischung aus Kindergarten und Schule mit einem verbindlichen Lehrplan. Anders in Finnland: Dort kommen die Kinder erst im Alter von sieben Jahren in die Volksschule. In Österreich und Deutschland werden die Kinder mit sechs Jahren eingeschult.
Jedes Land hat seine eigene Tradition und Kultur, wie Bildungsforscher Stefan Hopmann von der Uni Wien weiß. Seine Erkenntnis aus dem Vergleich verschiedener Bildungssysteme: „Eine Vorverlegung des Schuleintritts bringt nichts. Das mussten die Norweger erfahren, wo in den 1990er-Jahren der Schuleintritt um ein Jahr vorverlegt wurde – von sieben auf sechs Jahre. Als gut zehn Jahre später die Lernfortschritte gemessen wurden, stellten die Forscher keinen Unterschied zu früher fest.“
Ja zum Kindergarten
Früherer Schulstart? Nein. Viel mehr kann Bildungswissenschafter Hopmann da schon einer besseren Kooperation und Koordination zwischen Schule und Kindergarten abgewinnen: „Diese ist allerdings nur unter der Regie des Kindergartens sinnvoll. Denn schulreif sind Kinder meist eben erst im Alter von sechs Jahren.“
Etwas Bauchweh hat Hopmann bei dem Konzept der „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, wie es in manchen Unterrichtsmodellen üblich ist. Die Vorstellung dahinter: Wer schneller ist, soll auch im Stoff schneller vorankommen. Was sich pädagogisch sinnvoll anhört, entpuppt sich manchmal als Falle für langsamere Kinder. „Ein solches Konzept funktioniert nur dann, wenn die Langsameren, die von zu Hause wenig Hilfe mitbekommen, massiv unterstützt werden. Sonst sind diese Kinder von Anfang an abgehängt“, erklärt Wissenschaftler Hopmann: „Auch weil Kinder sehr viel von anderen Kindern lernen. Wenn Maria nämlich mitbekommt, was Julia neben ihr gerade macht, bringt ihr das mehr als die Förderung durch erwachsene Lehrer.“