Co-Parenting: Kinder kriegen ohne Liebe
Anika* will mit 40 noch einmal Mutter werden. Einen festen Lebenspartner braucht sie dafür nicht. Die Personalfachkauffrau aus Marburg in Hessen hat bereits einen Sohn im Alter von acht Jahren, die Ehe mit dem Kindsvater ging vor etwas mehr als einem Jahr in die Brüche. Doch Anika wollte immer schon mehr als nur ein leibliches Kind. Durch einen Fernsehbericht stieß sie vor einigen Monate auf das Familienkonzept Co-Parenting. Das im deutschsprachigen Raum relativ unbekannte Familienmodell, das in den 60-er-Jahren erstmals in den USA aufkam, ermöglicht ihr eine neue Form der Familienplanung, ganz nach ihren Vorstellungen.
Beim Co-Parenting finden sich Menschen zusammen, die keine Partnerschaft oder Liebesbeziehung miteinander führen und dennoch gemeinsam Eltern werden wollen. Neben alleinstehenden Frauen und Männern mit Kinderwunsch ist dieses Modell auch für gleichgeschlechtliche Paare, die den leiblichen Vater beziehungsweise die leibliche Mutter bewusst in das Familienmodell miteinbeziehen wollen, attraktiv.
Nachdem sie auf Co-Parenting aufmerksam wurde, begann Anika selbständig zu recherchieren – und stieß auf Familyship, die erste Online-Plattform für Co-Parenting im deutschsprachigen Raum. Dort sucht sie nun seit etwa drei Monaten den Mann für ihre Familienplanung. "Ich wollte mir nicht krampfhaft einen Partner suchen, nur um ein Kind zu zeugen. Mir ist es aber wichtig, dass er als Vater im Leben des Kindes präsent ist. Somit ist Co-Parenting eine ansprechende Alternative."
Bisher gestaltet sich die Suche nach dem idealen Kindsvater noch eher schwierig. An den Mann, mit dem Anika ihr zweites Kind zeugen möchte, hat sie nämlich klarerweise einige Ansprüche. "Er soll sich aktiv um das Kind kümmern und bemühen, in jeder Lebensphase. Ich stelle mir das so vor, dass wir uns das Sorgerecht teilen und uns dann gemeinsam kümmern. Es ist schön, ein Kind zusammen groß zu ziehen. Da kann man sich in Krisenzeiten auch an jemanden wenden." Auch das Alter ist relevant: "Ich will keinen allzu jungen Partner, schließlich soll man ja auch die Lebensrealität des anderen teilen können." Die sexuelle Orientierung ist für die Deutsche hingegen nebensächlich. "Bei einem heterosexuellen Mann wäre es mir wichtig, dass er nicht in einer Partnerschaft lebt, da ich denke, dass das zu Konflikten führen kann."
Patchwork-Familien, die ursprünglich konventionell aufgebaut waren und wo sich beispielsweise durch eine Trennung oder eine veränderte sexuelle Orientierung neue Dimensionen ergeben haben, sind nicht mit Co-Parenting vergleichbar. Auch die sexuelle Orientierung ist beim Co-Parenting, im Unterschied zu Regenbogenfamilien, nebensächlich. Die elterliche Komponente ist hingegen zentral. Die Facetten der elterlichen Rollen sind dabei denkbar vielfältig. Die Bandbreite reicht von einer Samenspende, wo der Vater nach der Geburt aktiv am Leben des Kindes teilhat, über geteiltes Sorgerecht bis hin zu Wohngemeinschaften, in denen das Kind mit mehreren Eltern zusammen aufwächst.
Aktive Elternsuche im Netz
Gegründet wurde die Website Familyship von Christina Wagner. Als bei der Deutschen vor einigen Jahren der Kinderwunsch aufkam, befand sie sich in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Anstatt sich an eine Samenbank zu wenden, suchte sie zusammen mit ihrer Partnerin eine Alternative, die ihrem Kind ein Aufwachsen mit Vater ermöglichen sollte. Vergebens. Doch die Suche sollte die Geburtsstunde von Familyship einläuten. "Ich habe die Plattform sozusagen aus eigenem Bedarf gegründet. Ich bin mit meiner damaligen Partnerin erst später draufgekommen, dass es den Begriff Co-Parenting in den USA bereits seit einiger Zeit gibt", erzählt sie.
Seither sind knapp fünf Jahre vergangen. Rund 3.500 Menschen mit Kinderwunsch haben sich auf der Website registriert – unter den Mitgliedern befinden sich keineswegs nur homosexuelle Männer, beziehungsweise lesbische Frauen. "Inzwischen ist das Verhältnis 50:50", so Wagner. "Wir sind damals ja eigentlich in der homosexuellen Szene gestartet und haben uns dann regelrecht gewundert, als sich so viele Heteros angemeldet haben. Dann wurde uns nach und nach klar, dass es viele Menschen gibt, die sich ein Kind wünschen, aber keinen Partner haben oder wollen."
Das kontroverse Familienmodell
Dass das Co-Parenting-Konzept nicht überall auf Verständnis stößt, ist Wagner bekannt. Immerhin bricht es nicht nur mit der gängigen familiären Mutter-Vater-Kind-Norm, sondern auch mit der romantischen Vorstellung, dass ein Kind aus Liebe entsteht. Nachvollziehen kann die Deutsche das nur bedingt. "Diese Kinder entstehen ja sehr wohl aus Liebe, sie ist aber eben platonisch. Liebe und Kind, das muss ja nicht zwingend zusammengehören. Ich verstehe natürlich, dass da eine Entkopplung zwischen Kinderwunsch und Beziehung passieren muss. Sobald diese abstrakte Hürde genommen ist, sehe ich da aber kein Problem."
Wagner sieht vor allem in der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung eine Legitimation für Co-Parenting als alternatives Familienmodell. "Unsere Gesellschaft hat sich eben verändert. Da wächst gerade eine halbe Generation an Singles heran, die trotzdem Kinder will. Diese Menschen sind meistens gut sozialisiert und finanziell abgesichert, aber sie haben eben nicht immer oder dauerhaft eine aufrechte Liebesbeziehung, die es ermöglicht, gemeinsam ein Kind zu zeugen."
Das Kind komme beim Co-Parenting trotzdem in ein gutes und liebevolles Umfeld und werde auch dementsprechend gefördert – "wie bei konventionellen Beziehungen eben". Romantische Liebe sei ja oft auch nur eine Momentaufnahme, die Umstände jedoch nicht immer so rosig.
Die Familie der Zukunft
Doch aus welchem gesellschaftlichen Wandel heraus ist Co-Parenting entstanden und wie sieht die Familie der Zukunft eigentlich aus? Christian Schuldt, Trendforscher am Zukunftsinstitut, sieht Co-Parenting als schlüssige Folgeerscheinung zweier gesellschaftlicher Megatrends.
Megatrends, das sind Entwicklungen, die die Gesellschaft über mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte beeinflussen und prägen. Beim Co-Parenting spielt einerseits die Individualisierung eine große Rolle. "Gekoppelt mit dem Trend der Vernetzung, die derzeit rasant fortschreitet, kommt es zu einer zunehmenden Flexibilisierung der Lebensstile", so Schuldt. Das bedeutet, dass traditionelle Lebensmodelle und biografische Muster verabschiedet und von immer differenzierteren Lebensformen ersetzt beziehungsweise ergänzt werden. "Man kann sich das eigene Leben quasi komplett nach den eigenen Wünschen gestalten. Die Möglichkeiten des Einzelnen werden maximiert." Was früher unvorstellbar, ja gar vollkommen unpraktikabel war, ist heute also ganz normal. Das bedeute Schuldt zufolge eben auch, dass die klassischen Familienmodelle zumindest ihren Status als gängige Modelle verlieren werden. "Es gesellt sich immer mehr dazu. Es wird neue zeitgemäße Familienformen geben. Die Familie wird also optionsoffener als jemals zuvor."
Der Wunsch nach Familie bleibt übrigens eine gesellschaftliche Konstante. Und das obwohl - beziehungsweise gerade weil - die Individualisierung immer mehr voranschreitet. "Familie gewinnt an Bedeutung, da man sich in einer immer komplexeren und unübersichtlicheren Welt einen Schutzraum wünscht."
"Man hat mal wieder Zeit für sich"
Individuelle Lebensgestaltung – genau darin sieht auch Wagner den größten Vorteil beim Co-Parenting und meint dabei vor allem die persönlichen Freiräume, die dadurch für die Elternteile geschaffen werden. "Man hat auch einfach mal wieder Zeit für sich. So bin ich ausgeglichener und auch eine bessere Mutter." Der Nachteil sei die damit verbundene Koordination, die in den Alltag integriert werden muss. "Man muss schon viel organisieren. Aber das bringt auch Chancen für persönliche, private Freiräume."
Der Wiener Sozialwissenschaftler Bernhard Heinzlmaier sieht das etwas anders. Er nennt zwar ebenfalls die fortschreitende Ausdifferenzierung und Individualisierung als Basis für die Entstehung neuer Familienmodelle, für ihn ergibt sich daraus jedoch eine problematische Situation. „Die Menschen werden immer distanzierter, alles wird rationaler und wir führen alle individualisierte Leben. Die Familie wird also immer mehr zum reinen Reproduktionsapparat. Wir wollen nicht verpassen, dennoch aber auch auf nichts verzichten. Der Vollständigkeit halber hat man dann eben auch noch eine Familie“, so Heinzlmaier.
Für Anika besteht der größte Vorteil darin, dass sie nicht "krampfhaft nach einem Partner suchen muss". Nachteil seien die immer noch recht konservativen gesellschaftlichen Normen, die durchs Co-Parenting gebrochen werden. "Der Nachteil ist natürlich, dass die Familiensituation des Kindes bei manchen vielleicht Unverständnis oder Verwirrung auslöst. Wenn Vorurteile auf dem Rücken des Kindes ausgetragen werden, ist das problematisch. Viele können das Modell einfach nicht nachvollziehen. Da muss man sich einfach aktiv um Aufklärung bemühen."
Anikas engeres Umfeld hat jedenfalls durchwegs positiv auf ihre Entscheidung, ein Kind ohne Liebespartner zu bekommen reagiert. Auch für ihren Sohn ist das alles kein Problem. Der wünsche sich sehnlichst ein Geschwisterchen.
Daten über geglückte Co-Parenting-Projekte hat die Familyship-Gründerin nicht. Erst kürzlich wurde in der Sendung ZDFdonnerstalk jedoch eine Co-Parenting-Familie portraitiert, die sich via Familyship gefunden hat. Wagner sieht in Co-Parenting jedenfalls eine Chance für Menschen, die sich nicht in konventionellen Familienkonzepten wiederfinden wollen: "Ich sehe es als ein mögliches Modell, nicht als das Modell für die Zukunft. Die traditionelle Familie wird es immer geben und das möchte ich auch gar nicht in Frage stellen."
*Name der Redaktion bekannt und geändert