Kultur

Er scheute keine Kontroverse

Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte ist zu Ende. Nach dem Ableben von Siegfried Lenz im Oktober und dem Freitod des Feuilletonisten Fritz J. Raddatz im Februar, starb mit Günter Grass einer der letzten großen Erzähler der deutschen Nachkriegsliteratur. Wie Grass’ Verlag Steidl bekannt gab, erlag der Nobelpreisträger Montagfrüh in einem Lübecker Krankenhaus einer Infektion.

Schon sein erster Roman "Die Blechtrommel" hatte Grass weltberühmt gemacht. Mit dem kleinwüchsigen, schrill-stimmigen Trommler Oskar Matzerath schuf Grass einen der berühmtesten Antihelden der Literaturgeschichte. Teil des Romanzyklus "Danziger Trilogie", erzählt die 1959 veröffentlichte "Blechtrommel", Schelmen- und Epochenroman zugleich, die Geschichte der kaschubischen Familie Matzerath und gilt als Schlüsseltext der deutschen Vergangenheitsbewältigung.

Existenzialist aus Mode

Sein literarisches Debüt gab der Dramatiker, Romancier und Lyriker mit dem 1956 erschienenen Gedichtband "Die Vorzüge der Windhühner". Existenzialist sei er gewesen, "wie es die Zeitmode vorschrieb", erinnerte er sich später. Trakl, Apollinaire, Rilke und Ringelnatz seien seine Vorbilder gewesen, ebenso hätten ihn die miserablen Lorca-Übersetzungen inspiriert (das Gleiche erzählte übrigens auch H.C. Artmann über seine Motivation, Dichter zu werden). Tatsächlich zu schreiben begonnen habe er aber bereits als Dreizehnjähriger: In ein leeres Kontobuch, das er seiner Mutter, die ein Lebensmittelgeschäft besaß, abgeschwatzt hatte, schrieb er "Die Kaschuben" und kündigte kühn an, es handle sich dabei um ein "Epos".

Die Umstände, unter denen dann die „Blechtrommel“ zum ersten Mal ans Licht der Öffentlichkeit trat, bilden eine anekdotische Klammer für die stete Parallelität von Grass’ künstlerischem wie gesellschaftlichem Engagement: Der Festsaal des Allgäuer Traditionswirten Adler, ein um das Jahr 1500 errichteter Landgasthof, beherbergte damals die Versammlungen der Gruppe 47. Dort las Grass 1958 erstmals vor Publikum aus seinem dicken Stapel an Manuskriptseiten der „Blechtrommel“. Zu den Zuhörern gehörte Marcel Reich-Ranicki, er soll gleich sehr angetan gewesen sein, der Grundstein für Grass’ Weltruhm war gelegt.

Reich-Ranicki blieb Grass nicht treu, er verriss spätere Grass-Romane wie „Ein weites Feld“ (1995). Das Publikum jedoch liebte Grass weiterhin. Als der „Adler“-Wirt im Frühjahr 2013 beschloss, Dinkelbauer in Südafrika zu werden, setzte sich Grass mit Verve für den Erhalt des Wirtshauses ein – hier stünde ein Stück Literaturgeschichte auf dem Spiel.

Energisch

Denn dies war bei Grass Tradition: energisches Auftreten für alle moralischen Anliegen dieser Welt. Samt regelmäßigem Wahlkampf für die SPD – der im Hause Grass zum Generationenzwist führte. Hier verstand der tolerante Vater keinen Spaß. Als sein rebellischer Sohn Bruno, 1965 als viertes von sechs Kindern geboren, CDU-Aufkleber am Fenster anbringen wollte, sei der Vater erzürnt eingeschritten: "Das ist mein Haus, da klebt nichts von der CDU!", soll er gewettert haben.

Umso schmerzlicher für Grass, dass sein politischer Einsatz zuletzt immer weniger gefragt war. Im April 2012 hatten einige SPD-Politiker angekündigt, sie wollten künftig auf die Hilfe des Schriftstellers, der mit SPD-Ikone Willy Brandt eng befreundet war, verzichten.

Auslöser war Grass' polemisches Israel-Gedicht "Was gesagt werden muss", in dem er behauptete, Israel gefährde den Weltfrieden.

Kontroverse

Grass, der auch als Bildhauer tätig war, arbeitete in den letzten Jahren zunehmend an der Demontage seines Denkmals. Beharrlich die neue Rechtschreibung verweigernd (wie viele Schriftsteller), liebte er die Kontroverse und sprach sich 1990 gegen die deutsche Wiedervereinigung aus. 2006 bekannte er im autobiografischen Roman "Beim Häuten der Zwiebel" erstmals öffentlich, bei der Waffen-SS gewesen zu sein. Als Grund nannte er den Wunsch, der Enge des Elternhauses zu entkommen. Im Interview mit der FAZ präzisierte er: Das Antibürgerliche am Nationalsozialismus sei entscheidend für die Mobilisierung seiner Generation gewesen.

Was bleibt neben Grass’ hervorragender literarischer Qualität? In der Begründung für den Literaturnobelpreis, der ihm 1999 verliehen wurde, heißt es: "Weil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat".

"Ilsebill salzte nach". Der aus nur drei Wörtern bestehende erste Satz aus Günter Grass’ Roman Der Butt (1977) gilt als schönster erster Satz der deutschsprachigen Literatur, sein Verfasser als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Mit seinen Romanen sowie seinem politischen Engagement prägte Grass die deutsche Nachkriegsgeschichte.

Bis 1958 schrieb Grass vor allem Kurzprosa, Gedichte und Theaterstücke, die er selbst dem absurden Theater zuordnete. Bereits sein 1959 erschienener erster Roman Die Blechtrommel verschaffte dem damals 31-Jährigen einen Welterfolg. Der 1979 von Volker Schlöndorff mit David Bennent in der Hauptrolle verfilmte Roman ist Teil der Danziger Trilogie, die außerdem die Novelle Katz und Maus (1961) und den Roman Hundejahre (1963) umfasst. Der Entwicklungsroman erzählt ein Kapitel deutscher Zeitgeschichte von 1899 bis in die Anfänge der Bundesrepublik und thematisiert die kollektive Verdrängung der Nazivergangenheit Deutschlands. "Die Blechtrommel", schrieb Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek als Reaktion auf Grass Tod, sei wegweisend für sie gewesen, "der Beginn einer neuen Sprache in der Literatur". Fast ein halbes Jahrhundert später offenbarte Grass in seiner Trilogie der Erinnerung mit den (semi-) autobiografischen Bänden Beim Häuten der Zwiebel (2006), Die Box (2008) und Grimms Wörter (2010)ein persönliches Dilemma: Er war bei der Waffen-SS.

2002 griff Grass in seiner Novelle Im Krebsgang erneut ein Tabuthema auf: Das Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Schlagzeilen machte Grass außerdem mit dem israelkritischen Gedicht Was gesagt werden muss. Zuletzt erschien 2014 das Buch Sechs Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht, in dem Grass den Leser an seinem Leben, seinem Schreiben, seiner Bildhauerei teilhaben lässt.

Günter Grass Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker, wurde Günter Grass am 16. Oktober 1927 im damals unabhängigen, mehrheitlich deutschsprachigen Danzig (heute Polen) als Sohn einer Kaufmannsfamilie geboren.

Im Zweiten Weltkrieg geriet er in amerikanische Gefangenschaft. 2006 sprach Grass erstmals über seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS. Ein persönliches Dilemma, denn er setzte sich sein Leben lang gegen das Vergessen der Nazigäuel ein. Gelernter Steinmetz, studierte er Grafik und Bildhauerei, bevor er zu schreiben begann. Für den noch unveröffentlichten Roman „Die Blechtrommel“ erhielt er 1958 den Preis der Gruppe 47, deren Mitglied er war. 1999 wurde ihm der Literatur-Nobelpreis verliehen. Grass war sein Lebtag politisch aktiv und warb für die SPD. Er hinterlässt sechs Kinder und seine Frau Ute.

Grass über sich und sein Schreiben:

„Demokratische Altlinke, Fossile wie ich, machen aber weiter den Mund auf.“ (bei einer Lesung in Berlin, 1992)
„Was aus Liebe dem eigenen Land zugemutet ward, wurde als Nestbeschmutzung gelesen. Seitdem gelte ich als umstritten.“ (aus der Nobel-Vorlesung in Stockholm, 1999)

„Ich bin ein lebenslustiger Pessimist.“ (bei einer Lesung in Hannover, 2001)

„Ich habe das (...) immer als einen Makel empfunden, der mich bedrückt hat und über den ich nicht sprechen konnte.“ (zu seiner spät eingestandenen Mitgliedschaft als junger Mann in der Waffen-SS in einem Interview mit der dpa, 2006)

„Schreiben bietet die Möglichkeit, absolut verlorene Dinge (...) mit literarischen Mitteln wieder entstehen lassen zu können.“ (in einem Interview mit der dpa, 2007)

Über den Literaturbetrieb:

„Wir haben ja zwei polnische Päpste. Der eine, in Rom, meint unfehlbar in Fragen sexueller Praxis zu sein. Ich habe da meine Zweifel. Der andere, in Frankfurt, meint unfehlbar im Urteil über Literatur zu sein. Auch da habe ich meine Zweifel.“ (Über den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, 1995)

Über Politik:

„Hässlich sieht diese Einheit aus.“ (in einem Vortrag auf der ersten gesamtdeutschen Fraktionssitzung der Grünen/Bündnis 90, 1990)
„Demokratie ist kein fester Besitz. (...) Zurzeit sind wir dabei, sie zu demontieren.“ (in einem Interview mit der dpa, 2007)

„Schafft eine Kulturabgabe, die auch an die Reichen rangeht, sonst kann man den Begriff Kulturnation streichen.“ (zum Auftakt seiner Wahlkampfreise für die SPD, 2009)

„Es ist mir aufgefallen, dass in einem demokratischen Land, in dem Pressefreiheit herrscht, eine gewisse Gleichschaltung der Meinung im Vordergrund steht und eine Weigerung, auf den Inhalt, die Fragestellungen, die ich hier anführe, überhaupt einzugehen.“ (im NDR zur Empörung über sein Israel-kritisches Gedicht „Was gesagt werden muss“, April 2012)