Über die Perversion im System Oper
Moshe Leiser und Patrice Caurier zählen zu den erfolgreichsten Opernregisseuren der Welt. Seit 35 Jahren arbeiten sie ausschließlich zu zweit. Bei den Salzburger Festspielen kann man Rossinis „L’italiana in Algeri“ mit Cecilia Bartoli in ihrer Inszenierung sehen. Als diese Produktion bei den Pfingstfestspielen Premiere hatte, gab es am Ende Standing Ovations – für die große Cecilia Bartoli, aber auch für die Regisseure. Leiser, 1956 in Antwerpen geboren, und Caurier, Jahrgang 1954 und aus Paris, gelang es exemplarisch, aus einem alten Stoff eine aktuelle Geschichte über Geschlechterrollen zu erzählen – respektvoll und hinreißend lustig. Die beiden haben an den wichtigsten Opernhäusern der Welt gearbeitet und sagen: „Je größer das Haus ist, desto weniger geht es um das Wesen der Oper, desto weniger Energie fließt in die Kunst.“ Im Sommer kann man Rossinis „L’italiana in Algeri“ wieder bei den Salzburger Festspielen sehen.
KURIER: Das Publikum in Österreich gilt als konservativ. Vielen Besuchern scheint es nur um Sänger und um die musikalische Gestaltung zu gehen. Warum ist die Inszenierung im Gesamtkontext einer Produktion so wichtig?
Patrice Caurier: Wenn man eine Oper produziert, muss man zwei Götter anrufen: den Gott der Musik und den Gott des Theaters. Jeder Opernkomponist hatte theatralische Träume, sonst hätte er nicht Oper komponiert. Es ist unsere Pflicht, der Partitur und dem Libretto zu dienen.
Moshe Leiser: Interessant, dass Sie sagen, dass sich konservatives Publikum nicht so sehr um den szenischen Bereich kümmert. Ich glaube, das Gegenteil ist wahr. Von dem Moment an, an dem eine Inszenierung nicht zur Vorstellung konservativer Besucher passt, werden sie wild. Sie wollen nicht, dass eine Opernregie sie zum Denken, zum Fühlen animiert, sie wollen überhaupt nicht involviert sein. Ich verstehe dieses Publikum nicht. Wenn man nur wegen der Musik in die Oper geht, da gibt es doch wunderbare CDs, die man daheim in Topqualität besser hören kann. In der Oper ging es immer um die Geschichte, von Monteverdi bis heute. Die theatralische Seite der Oper zu negieren ist ein Skandal gegenüber den Komponisten.
Wie zeitgemäß darf oder muss eine Inszenierung also heute sein? Und wie sehr soll sie die soziale, politische Situation spiegeln?
Leiser: Der Look zum Beispiel ist eine Falle. Viele Menschen hassen ja Inszenierungen, weil sie zeitgemäß aussehen. Dabei kann eine Inszenierung in modernen Kostümen viel altmodischer sein als eine in klassischen Kostümen. Eine Inszenierung hat immer mit unserer Zeit zu tun, weil sich auch unsere Beziehung zu Themen wie Sex oder Gewalt geändert hat im Vergleich zu der Zeit, als diese Werke komponiert wurden. Es ist absolut normal, dass Künstler das reflektieren, als Bürger unserer Zeit. Was aber nicht bedeutet, dass eine Oper eine Tageszeitung oder ein Pamphlet ist.
Caurier: Es ist auch nicht wahr, dass bei einer Opernproduktion der Dirigent nur dafür verantwortlich ist, was man hört, und der Regisseur dafür, was man sieht. Es geht darum, dass man die Musik gemeinsam versteht. Ein wirklicher Opernregisseur inszeniert nicht nur die Musik, sondern die Essenz der Musik. Und er zeigt auf der Bühne, warum sie existiert.
Sie tauchen mit Ihren Inszenierungen immer tief in die Geschichte ein, dabei sieht aber jede Produktion anders aus. Sie haben keinen speziellen Stil, keine Signatur im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren.
Caurier: Die Musiken sind ja auch völlig unterschiedlich. Die Looks können daher auch nicht immer gleich sein. Uns geht es um die Ethik gegenüber dem Werk, erst dann kommt die Ästhetik.
Leiser: Ich respektiere Regisseure, die ihre Welt auf die Opernbühne bringen.
Caurier: Wie etwa Robert Wilson. Da müssen die Themen in seine Welt passen. Aber wir kommen aus einer anderen Ecke zur Oper: aus Liebe zur Musik und zum Theater.
Leiser: Wenn man ein gewisses ästhetisches System hat, kann man auch zehn Produktionen pro Jahr machen.
Wie viele pro Jahr sind für Sie seriös?Caurier: Maximal drei pro Jahr.
Leiser: Wenn man mehr macht, hat man nicht die Zeit, sich intensiv damit auseinander zu setzen und die Partitur zu lernen. Sonst bedient man die internationale Opern-Jet-Set-
Maschine. Das macht keinen Sinn.
Wie wichtig ist Humor in Ihrer Arbeit?
Leiser: Sehr. Humor ist die eleganteste Art der Verzweiflung. Das gilt für tragische Werke und für Komödien. Humor bedeutet grundsätzlich Distanz. Und ich glaube, man sollte bei allem, was man tut, Distanz haben.
Ihre Inszenierung von „L’italiana in Algeri“ ist besonders lustig. Was macht die Zusammenarbeit mit Cecilia Bartoli zu besonders?
Caurier: Sie ist besonders seriös. Und sie hat eine große Passion für das Theater. Für sie ist es nie ein Problem, etwas auszuprobieren.
Leiser: Neben allen Superlativen, die man über sie sagen kann, von der Technik über ihre Stimme bis zu ihrer Intelligenz – das Allerwichtigste ist: Cecilia arbeitet. Wenn wir eine Produktion mit ihr machen, wissen wir, sie ist sechs Wochen lang da. Sie zählt nicht zu den Opernstars, die zu dreieinhalb Proben kommen und dann das Publikum mit ihrer göttlichen Stimme erobern. Es gibt ja viele wunderbare Sänger, bei denen man das Gefühl hat, Theater ist bei der Oper ein notwendiges Übel.
Das Gefühl hat man auch bei manchen Dirigenten.
Caurier: Absolut. Aber zur Verteidigung mancher Sänger muss man sagen: Sie werden für einen großen Zeitraum gebucht, und dann passiert bei den Proben nichts. Wofür sechs Wochen proben, wenn man das auch in einer Woche machen kann? Das ist eine Perversion des Systems und das Problem von Repertoiretheatern.
Ist das Repertoiretheater am Aussterben?
Leiser: Es hängt alles vom Willen der Intendanten ab. Covent Garden zum Beispiel ist, wenn man so will, eine Art Repertoiretheater. Man kann jeden Abend ein anderes Werk spielen und dennoch die höchste Qualität bewahren. Weil man dort bei jeder Wiederaufnahme zwei Wochen Probenzeit hat. So kann Repertoiretheater funktionieren. Wogegen ich immer war und was mich traurig macht: Wenn man mit Sängern sechs Wochen arbeitet – und zwei Monate später treten Sänger auf, die man nie getroffen hat. Ich verstehe das Businessmodell eines Repertoiretheaters. Aber in Repertoiretheatern werden in den seltensten Fällen Entscheidungen aus künstlerischen Gründen getroffen, sondern um das Haus am Laufen zu halten. Wenn die Kunst nicht mehr das Wichtigste ist, dann verringert man die Qualität. Und man muss Rücksicht auf das konservative Publikum nehmen. Dann hat man vielleicht Stars auf der Bühne, aber es ist egal, wie die Produktion aussieht. Das ist legitim, aber es zerstört die Kunstform Oper. Und es ist nicht das, was der Komponist im Sinn hatte. Das ist ein Betrug am Komponisten. Das heißt nicht, dass wir inszenieren sollten wie vor 300 Jahren. Unser Job ist es zu garantieren, dass diese Meisterwerke heute immer noch relevant sind und zum heutigen Publikum sprechen. Die Menschen sollten nicht ins Theater gehen, um Schönheit zu sehen, sondern um zu sehen, wie wir leben, wer wir sind.
Was läuft noch falsch am Betrieb?
Leiser: Oper ist in vielen Städten zu teuer. Und auch das Marketing ist falsch. Oper wird als Ort mit großen Lustern und rotem Samt verkauft. Sogar der TV-Moderator trägt Smoking. Sänger, Dirigenten, Regisseure sind nicht so. Wir arbeiten im Staub des Theaters, um Wahrheit zu produzieren. Oper ist kein luxuriöses Entertainment für einen kleinen privilegierten Teil der Gesellschaft. Aber leider hat die intellektuelle Welt die Oper verlassen. Menschen gehen heute in die Oper, um den Alltag zu vergessen. Ich verstehe, dass es manchen Intendanten um Kompromisse geht. Aber wenn wir so weitermachen, dann sind die Häuser in zehn Jahren geschlossen. In einem ganzen Kontinent wie den USA kann man heute als Regisseur nicht mehr frei arbeiten, sondern ist vom Sponsor abhängig. Die Kunstform ist dort feine Unterhaltung für feine Leute. Das ist das Ende des Genres.
In Asien etwa entstehen gerade viele neue Opernhäuser. Wie sehen Sie das?
Leiser: Auch dort wird ein Typus Oper hergestellt, wo es nur um Schönheit geht. Themen wie Tod oder Sex, die die Oper ausmachen, kann man nicht so auf die Bühne bringen. Ich finde, nur in Europa, und da nur in ein paar Häusern, kämpfen die Leute noch darum, Oper als Kunstform zu realisieren.
Sie haben an den wichtigsten Häusern in Europa gearbeitet. Wo geht es noch am meisten um die Kunst?
Leiser: Meine Diagnose ist: Je größer das Haus ist, desto weniger Energie fließt in die Kunst. Nehmen wir Wien als Beispiel: Ich arbeite 100.000 Mal lieber im Theater an der Wien als an der Staatsoper.