Kultur/Wiener Festwochen

Castellucci: Wie weit die Nächstenliebe geht

Ein weißes Sofa ist immer eine heikle Angelegenheit. Mutig ist ein solch aseptisch anmutendes Interieur, wenn man einen inkontinenten Familienangehörigen hat.

Romeo CastelluccisSul concetto di volto nel Figlio di Dio“ („Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn“) legt das anschaulich dar. In einem komplett in weiß gehaltenen Wohn- und Schlafbereich ist ein Sohn ständig damit beschäftigt, seinen kranken, dementen Vater zu wickeln. „Wie geht’s dir heute, Papa?“, hat der in Anzug und Krawatte gekleidete Sohn, der sich eben fürs Büro fertig machen wollte, ihn kurz zuvor gefragt. Eine zärtliche, liebevolle Geste. Der verzweifelte alte Mann weint, als ihm Kot aus der Windel und über die dünnen Beine rinnt.

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Beschmutzt

Der Sohn beruhigt ihn. „Weine nicht, Papa.“ Bis sich der Vater zum dritten Mal beschmutzt, das weiße Ikea-Bett mit dünnflüssigen Fäkalien durchnässt ist. Der Sohn scheint am Ende. Das Publikum im Burgtheater leidet mit ihm: Der bestialische Geruch zieht sich durch den Raum, bis zum Schluss wird das Theater wie ein Kuhstall riechen. Über der Szene schwebt der gütige Blick Jesu: ein groß projiziertes Jesus-Bild des Renaissancemalers Antonello da Messina.

Im zweiten Teil der Performance werfen Kinder Handgranaten auf das Jesus-Bild. Und da beginnen die Buhrufe, Aufforderungen wie „Weg damit!“ oder „So eine Schweinerei!“. Andere Zuschauer verteidigen das Stück, es kann zu Ende gespielt werden. Einhelliger Applaus. Das letzte Bild auf der Bühne: Das Jesus-Bild wird heruntergerissen, eine Leuchtschrift sagt: „I am your shepherd“. Ein „not“ ist beigefügt, allerdings nicht beleuchtet. Ein Hinweis auf Zweifel, mit dem Gläubige konfrontiert sind?

Das Stück hatte bereits in Paris und Berlin die Gemüter katholischer Fundamentalisten erregt, die wegen vermeintlicher Blasphemie zu Protesten aufriefen. In Wien gab es am Sonntag ein Publikumsgespräch mit dem Wiener Dompfarrer Toni Faber und Regisseur Castellucci.

Alles echt?

Ob die Störaktionen echt waren, ist umstritten. Die Aufführung des 1960 geborenen Castellucci, der mit seiner Compagnie Socìetas Raffaello Sanzio öfters bei den Festwochen zu Gast war und im August in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird, nimmt durch die Proteste eine bravouröse dramaturgische Wendung: Gerade, als die Granatenexplosionen immer lauter werden, setzen die Schreie ein. Sie sorgen für echte Höhepunkte. Eine solche Erregung wegen angeblicher Jesus-Beleidigung scheint untypisch für das Festwochenpublikum.

Castelluccis Performance ist nicht da mutig, wo sie das Jesusantlitz mit Granaten bewerfen lässt. Das ist höchstens plakativ. Mutig ist vielmehr die hochpolitische und existenzielle Frage: Was wird aus uns und wie weit sind wir bereit, in der Nächstenliebe zu gehen? Oder, theologisch ausgedrückt: Wie weit reicht die christliche „Caritas“?

KURIER-Wertung: **** von *****