Kultur

Wer ist die Frau an Ihrer Seite wirklich?

Bevor sie ihrem Mann oder ihrer Tochter ein Stück von dem von ihrer Mutter gebackenen Kuchen mitgebracht hätte, hätte sie ihn weggeworfen.

Die schöne Clarisse Rivière hat ein Geheimnis, von dem auch ihr Mann und ihre Tochter nichts wissen. Dieses Geheimnis ist ihre dunkelhäutige Mutter, die sie jeden ersten Dienstag im Monat in Bordeaux besucht. In einer Vergangenheit, die die einfältig wirkende Schöne vergessen möchte. So wie ihren wirklichen Namen: Malinka.

Clarisse/Malinkas Doppelleben ist die Ouvertüre zu Marie NDiayes neuem Roman "Ladivine".

Erneut spielt die 46 -jährige Französin darin mit den im europäischen Roman so selten gewordenen magischen Erzählelementen. NDiayes Frauengeschichten sind immer auch Gespenstergeschichten.

Oder zumindest scheinbar realistische Erzählungen voll unerklärlicher Details: Koffer verschwinden, deren Inhalt taucht an unmöglichen Orten wieder auf; Teenager stehen mitten in der Nacht auf dem Balkon eines Hotelzimmers, werden im Kampf vom sechsten Stock auf eine Betonplatte geworfen, hinterlassen dort Blutspuren, und stehen am nächsten Tag unversehrt in fremden Wohnzimmern.

Und dann ist da dieser Hund. Er taucht, in jeder der drei miteinander verwobenen Frauengeschichten, die NDiaye hier erzählt, auf. Steht am gegenüberliegenden Straßenrand und scheint die Protagonistin zu verfolgen – um sie zu beschützen.

Merkwürdige Details

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NDiaye schreibt, seit sie 17 ist. Für "Drei starke Frauen" erhielt sie 2009 den Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis in Frankreich. In fast 30 Jahren hat sie einen unnachahmlichen Stil entwickelt. So schiebt sie wie selbstverständlich komplett merkwürdige Details in ihre Erzählung. Clarisse etwa hat die Angewohnheit, von ihrem Mann grundsätzlich nur als "Richard Rivière" zu sprechen. 25 Jahre wird sie mit ihm teilen, eine Tochter bekommen und ihm nie von ihrem Geheimnis erzählen: Von ihrer Mutter, die sie nur als "die Dienerin" bezeichnet.

Und wie schon in ihrem erst 2013 auf Deutsch erschienen Frühwerk "Ein Tag zu lang", dessen Gruselfaktor sich aus dem Verhältnis Paris/Provinz nährt, warnt NDiaye vor Urlaubsreisen: Im zweiten Teil von "Ladivine", in dessen Mittelpunkt Clarisse Rivières in Berlin lebende Tochter Ladivine steht, geht es um einen nicht näher genannten Urlaubsort. Es wird schrecklich. Grindige Hotelzimmer, greinende Kleinkinder, quietschende Betten sind hier nur ein Detail. Wäre man doch wie immer zu den Schwiegereltern nach Lüneburg gefahren!

Der unbekannte Gatte

Besonders gelungen ist jene Passage, in der Ladivine von den Veränderungen berichtet, die ihr Mann im Urlaub durchmacht. Marko, dieser liebevolle, träge deutsche Gutmensch – er wird im Süden zum lässigen, durchtriebenen Unbekannten. Sie beginnt, ihn zu verachten.

Wer kennt das nicht: Menschen, die man vermeint zu kennen, sieht man plötzlich mit einem anderen Gesicht. Oder einem anderen Blick. Das kann sehr böse ausgehen.

NDiayes Geschichte endet nicht als Gemetzel. Zwischendurch wird es aber ganz schön schaurig. Ein großartiges Buch – aber ganz bestimmt keine Urlaubslektüre.

KURIER-Wertung: