Kultur

Verwandtschaft kann man sich doch aussuchen

Was tun, wenn man einen Nachruf schreiben muss, und alles, was einem einfällt, ist, dass der Verstorbene, bester Freund seit Jahrzehnten, Schinkenspeck liebte?

A.N. Dyer, gefeierter Schriftsteller, besucht seinen besten Freund Charlie zum letzten Mal. "Jetzt sieh mal einer an, was aus uns geworden ist", sagt er und tätschelt die Hand des Sterbenden.

Charles Henry Topping, Anwalt und lebenslanger Freund des berühmten Schriftstellers A.N. Dyer, wird begraben. Und Dyer weiß nicht, was er sagen soll. Ihm fällt nichts anderes ein als Charles geliebter Schinkenspeck. Kein gutes Sujet für eine Trauerrede. Dann schon lieber eine vorgefertigte Ansprache im Internet ordern.

Versagersöhne

Mit diesem grotesken Trauerszenario beginnt David Gilbert seine New Yorker Familiengeschichte "Was aus uns wird", im Original "& Sons".

Nicht, dass man eine derartig melancholisch-komische Generationengeschichte zum ersten Mal läse. Der Verlag zitiert auf dem Umschlag, dass Gilberts Roman "perfekt für Fans von Jonathan Franzen" sei. Auch an Tom Wolfe fühle sich jemand erinnert.

Tatsächlich ist Gilberts 640-Seiten-Schwarte auf den ersten Blick wenig originell: Ein berühmter Schriftsteller, der als Vater versagt hat. Dazu zwei erwachsene Söhne mit Drogenvergangenheit sowie ein Nachzügler aus einer Affäre des Schriftstellers. Ort der Handlung: New York.

Doch es zahlt sich aus, sich auf dieses scheinbar bekannte Szenario einzulassen. Denn Gilbert ist nicht nur ein kluger Menschenbeobachter und fantastischer Erzähler – er hat auch einige Überraschungen in petto. Etwa die makabere Karikatur von Kunst: Ein Filmemacher hält die Verwesung einer Leiche auf Video fest. Oder das köstliche Auf-die-Schaufel-nehmen des Literaturbetriebs: Das Frühwerk des Starautors A.N. Dyer gilt als besserer "Fänger im Roggen", sein Urheber als eben so geheimnisvoll wie J. D. Salinger.

Alle Inhalte anzeigen

Und auch die Familiengeschichte ist ungewöhnlicher, als zunächst vermutet. So kann es zum Beispiel sein, dass sich manche Söhne als besondere Nachfahren herausstellen: Kurz, bevor er zu sterben glaubt, eröffnet Schriftsteller-Ikone A.N. Dyer seinen Söhnen Richard und Jamie, dass ihr kleiner Bruder Andy, den sie bisher für das Ergebnis eines väterlichen Seitensprungs hielten, nichts weniger als ein Klon seiner selbst ist. Er bittet die beiden Mittvierziger, zu denen er ein äußerst angespanntes Verhältnis hat, sich nach seinem Tod um deren 17-jährigen Halbbruder zu kümmern.

Der New Yorker David Gilbert bietet in seinem zweiten Roman eine außergewöhnliche, wunderbar geschriebene Variante des Sujets "Väter und Söhne"– frei nach Turgenjew: "Väter und Klone".

KURIER-Wertung:

INFO: David Gilbert: „Was aus uns wird“ Eichborn Verlag. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer. 639 Seiten. 23,70 Euro.