"Komplette Überraschung": Literaturnobelpreis für Abdulrazak Ghurna
Von Peter Temel
Diesmal ist Afrika an der Reihe. Der Literaturpreis 2021 geht an den tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah, der in Großbritannien lebt und arbeitet. Diese überraschende Entscheidung gab die Schwedische Akademie heute, Donnerstag, in Stockholm bekannt.
Er erhält die Auszeichnung "für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten".
Gurnah hat bisher zehn Romane und eine Reihe von Kurzgeschichten veröffentlicht. Der Autor, der Ende der 1960er-Jahre nach England geflohen ist, thematisiert in seinem Werk immer wieder die Disruptionen von Fluchterfahrungen. Zu schreiben begann er als 21-Jähriger im englischen Exil. Zwar ist seine Muttersprache Swahili, seine Werke publiziert er allerdings auf Englisch. Bei der Bekanntgabe des Nobelpreises wurde er als einer der wichtigsten Vertreter der postkolonialen Literatur bezeichnet.
Gurnah: "Einfach wunderbar"
Gurnah zeigte sich am Donnerstag begeistert über die Zuerkennung des Literaturnobelpreises. Es sei einfach wunderbar, den Preis zu erhalten, er fühle sich geehrt, eine Auszeichnung zu erhalten, die an so viele anerkannter Schriftsteller verliehen wurde. "Ich denke es ist einfach brillant und wunderbar", so Gurnah gegenüber Reuters.
"Ich bin der Schwedischen Akademie sehr dankbar, mich und mein Werk zu nominieren", erklärte der Schriftsteller. Er sei immer noch dabei, die Information zu verarbeiten. "Es war so eine komplette Überraschung, dass ich darauf warten musste, bis es verkündet wurde, um es wirklich zu glauben." Danach gefragt, ob er nun Champagner trinke oder vor Freude tanze, habe er nur lachend "Nein" gesagt.
Postkoloniales Schreiben
Gurnah wurde 1948 auf der Insel Sansibar geboren, die zur früheren britischen Kolonie Tansania gehört. Von 1980 bis 1982 lehrte Gurnah an der Bayero University Kano in Kano, Nigeria. Anschließend ging er an die University of Kent, wo er 1982 promovierte und bis zu seiner kürzlich erfolgten Pensionierung lehrte. Sein akademisches Hauptinteresse galt dem postkolonialen Schreiben und mit dem Kolonialismus assoziierten Diskursen, insbesondere in Bezug auf Afrika, die Karibik und Indien. Gurnah hat zwei Bände "Essays on African Writing" herausgegeben und Artikel über eine Reihe zeitgenössischer postkolonialer Autoren veröffentlicht, darunter V. S. Naipaul, Salman Rushdie und Zoë Wicomb. Gurnah war 2016 Juror beim renommierten Man Booker Prize.
In deutscher Übersetzung liegen etwa folgende Romane von Abdulrazak Gurnah in deutscher Übersetzung vor: "Donnernde Stille", erschienen im Jahr 2000 in der Edition Kappa, "Schwarz auf Weiß", erschienen 2005 im Münchner A1 Verlag, und "Die Abtrünnigen", erschienen 2006 im Berlin Verlag. Derzeit sind die insgesamt fünf auf Deutsch übersetzten Bücher aber nicht lieferbar.
"Die Abtrünnigen" ("Desertion"), Berlin Verlag, 2006
"Schwarz auf Weiß" ("Pilgrims way"), A1 Verlag, 2004
"Ferne Gestade" ("By the sea"), Edition Kappa, 2002
"Donnernde Stille" ("Admiring silence"), Edition Kappa, 2000
"Das verlorene Paradies" ("Paradise"), Fischer Taschenbuch, 1998
Zuletzt auf Englisch erschienene Bücher:
"Afterlives", Bloomsbury 2020
"Gravel Heart", Bloomsbury 2017
"The Last Gift", Bloomsbury 2011
Die englische Universität Kent hat überschwänglich auf die Verleihung des Literatur-Nobelpreises für ihren früheren Professor Abdulrazak Gurnah reagiert. "Wir sind absolut begeistert, dass unserem ehemaligen Dozent Abdulrazak Gurnah der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde - das ist wirklich inspirierend", twitterte die Hochschule mit Sitz im südostenglischen Canterbury am Donnerstag.
Übersetzer "fast wahnsinnig" vor Freude
"Ich bin fast wahnsinnig geworden, als ich das gehört habe", freut sich der Wiener Schriftsteller und Übersetzer Helmuth A. Niederle über die Zuerkennung des Literaturnobelpreises an Abdulrazak Gurnah. Niederle hat dessen Roman "Die donnernde Stille" übersetzt und ihn 1999 zu einem Symposium nach Wien eingeladen. Dort habe Gurnah in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur einen Vortrag mit dem Titel "Literatur: eine durchwachsene Geschichte" über den "Grenzbereich zwischen Oratur und Literatur" gehalten, wie sich Niederle im APA-Telefonat erinnert. "Wir Weißen neigen ja dazu, nur Verschriftlichtes 'Literatur' zu nennen. Dieser Sichtweise ist Gurnah entschieden entgegengetreten. Seine Großmutter hatte ihm Shakespeare-Texte als Geschichten erzählt, erst später hat er sie als Literatur begriffen", so Niederle.
In einem Essay des Autors heiße es: "Es ist mir auch wichtig, dass Fiktion anlocken und blenden und Freude und Schmerz geben kann und dass sie nach Wahrheit streben sollte." Es gehe Gurnah in seinen Texten in punkto Kolonialismus "um ein fein ziseliertes Bild wie sich die Menschen begegnet sind und einander erlebt haben". Er arbeite auch die Identifikation von Schwarzen - etwa in Filmen - heraus oder lasse seine Protagonisten Beziehungen zu Weißen eingehen, "die laut ihm glauben, sie müssen intensive Beziehungen zu einem Afrikaner eingehen, um irgendetwas gut zu machen", analysiert Niederle.
Dass Gurnahs Bücher seit einigen Jahren nicht mehr ins Deutsche übersetzt wurden, bedauert Niederle. Als Grund sei ihm aus der Verlagswelt vermittelt worden: "Es gibt eben Namen, die im deutschen Sprachraum nicht funktionieren."
Keine große Zeremonie
Verliehen wird die mit zehn Millionen Schwedischen Kronen (rund 987.000 Euro) dotierte Auszeichnung am 10. Dezember, dem Todestag des schwedischen Dynamiterfinders und Preisstifters Alfred Nobel. Übergeben werden die Auszeichnungen allerdings aufgrund der Pandemie neuerlich in den Heimatländern der Preisträger und nicht wie sonst üblich bei einer Zeremonie im Stockholmer Konzerthaus.
Nach turbulenten Jahren mit der Aussetzung des Preises 2018 und der im Jahr darauf erfolgten Doppelbekanntgabe für Olga Tokarczuk (für 2018) und Peter Handke (für 2019) scheint das Prozedere nun wieder in ruhigere Fahrwasser gekommen. Im Vorjahr wurde die US-Lyrikerin Louise Glück mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Fünfter Literaturnobelpreisträger aus Afrika
Seit 1901 wird der Literaturnobelpreis vergeben. Gurnah ist der fünfte Träger des Literaturnobelpreises, der aus Afrika stammt. Seine Vorgängerinnen und Vorgänger sind Wole Soyinka aus Nigeria (1986), Nagib Mahfuz aus Ägypten (1988) sowie Nadine Gordimer (1991) und John M. Coetzee (2003) aus Südafrika.
2020: Louise Glück (USA)
2019: Peter Handke (Österreich)
2018: Olga Tokarczuk (Polen; der Preis wurde 2019 nachgeholt)
2017: Kazuo Ishiguro (Großbritannien, in Japan geboren)
2016: Bob Dylan (USA)
2015: Swetlana Alexijewitsch (Belarus)
2014: Patrick Modiano (Frankreich)
2013: Alice Munro (Kanada)
2012: Mo Yan (China)
2011: Tomas Tranströmer (Schweden)
2010: Mario Vargas Llosa (Peru)
2009: Herta Müller (Deutschland)
2008: J.M.G. Le Clézio (Frankreich)
2007: Doris Lessing (Großbritannien)
2006: Orhan Pamuk (Türkei)
2005: Harold Pinter (Großbritannien)
2004: Elfriede Jelinek (Österreich)
2003: John M. Coetzee (Südafrika)
2002: Imre Kertész (Ungarn)
2001: V.S. Naipaul (Großbritannien)