Kultur

Vater lächelt sogar auf dem Polizeifoto

Man soll nicht zu verbissen nach verborgenen oder widersprüchlichen Bedeutungen schürfen – auch nicht in Büchern, die man liest.

Der Tipp kommt von Dell Parsons, einem pensionierten Lehrer. Lieber gerade auf die Dinge schauen und sich bewusst machen, was man sieht. Dann lernt man, die Welt zu akzeptieren.

Die lapidare Lebensanweisung musste er früh beherzigen. Sonst hätte Dell die Tragik in seinem jungen Leben wohl nicht verkraftet.

Deren Umrisse sind rasch skizziert: Richard Ford lässt in "Kanada" den heute 66-jährigen Dell erzählen, was geschehen ist, als er 14, 15 war.

Der Autor erledigt das wie nebenbei auf der ersten Seite. Doch die Abgründe, die hier aufreißen, sind tief.

"Das Ereignis unseres Lebens", wird Dells Zwillingsschwester Berner später verbittert dazu sagen, dass die Eltern eine Bank überfallen haben.

Sie kamen ins Gefängnis, die Mutter brachte sich um.

Die Kinder werden ihre Eltern später, sieht man von einem Foto in der Zeitung ab, nie wiedersehen.

Der Überfall

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Mutter und Vater waren die "unwahrscheinlichsten Bankräuber der Welt". Mutter Neeva, Lehrerin, nachdenklich, liebt Gedichte. Vater Bev, ein Junge vom Land, war einst bei der-Air-Force. Ein gut gelaunter Feschak. Freundlich. Er lächelt sogar auf dem Polizeifoto. Sie haben den Überfall nicht geplant. Aber das Geld ist ausgegangen. Nach dem Überfall kommt Bev heim und konzentriert sich auf ein Puzzle, ein Ölgemälde von den Niagarafällen. Alles in Ordnung, Kinder! Die Verzweiflung erkennt nur, wer die Schweißtröpfchen an seinen Schläfen sieht.

Nichts ist in Ordnung. Die Kindheit ist vorbei. Berner haut ab, bevor das Jugendamt kommt, und Dells Weg führt nach Kanada. Dem Teufel entgegen. Einem Mörder.

Fords sprachliche Beiläufigkeit spuckt Schmerzvolles auf die Seiten, als würde es dadurch erträglicher. Lakonisch und nie selbstmitleidig berichtet Dell. Der Selbstmord der Mutter in Haft wird zwischendurch erwähnt.

Dell wird später ihr Tagebuch in den Händen halten. Es heißt "Chronik eines schwachen Menschen".

Das Schlimme an dieser Geschichte ist ihre Unerbittlichkeit. Man weiß, was passieren wird. Die Story kreist um den Schrecken und zieht immer engere Bahnen. Trotzdem unterliegt man der Illusion, es könnte gut ausgehen: weil man es sich so wünscht.

Richard Ford, 68, nimmt in seinem achten Roman ein Motiv wieder auf, das ihn schon lang beschäftigt: Bereits in "Wildlife" (1990) sind es Vater und Mutter, die ihren Sohn zum Zeugen dessen machen, was sie tun. Der Sohn überlebt, wie Dell, mit seelischen Narben.

Ford erzählt zügig, schweift nicht ab. Er legt keine Nebenarme frei, wie er das etwa im Pulitzerpreis-gekrönten "Unabhängigkeitstag", dem zweiten Teil seiner Frank-Bascombe-Trilogie getan hat. Fords Kanada ist straff erzählt. Düster und sehr, sehr weise.

"Ich hatte mir angewöhnt, meinen eigenen Lebensweg als richtig zu verteidigen, als könnte jeder etwas daraus lernen. So bewundernswert war der aber gar nicht."

KURIER-Wertung: ***** von *****

Iris Hanika - "Tanzen auf Beton"

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Viel Brauchbares erfährt man bei Iris Hanika. Dass Iron-Maiden-Sänger Bruce Dickinson im Zweitberuf Verkehrspilot ist. Dass man Metal noch mit 47 entdecken kann und gleich Experte werden muss, denn es handelt sich dabei um eine Lebenseinstellung. Ein bisschen Metal geht nicht.

Nichts geht "ein bisschen" in diesem Buch. "Tanzen auf Beton" heißt der neue Roman der 50-jährigen Berlinerin, und er ist intensiv. Er erzählt von zermarternden Seelenzuständen.

Wie frühere Romane, involviert er Songtexte, Reiseberichte (Paris, Tel Aviv, Wien, Moskau) sowie Alltagsbeobachtungen aus Berlin-Kreuzberg. Man lernt, dass das Lied mit dem Refrain "Those were the days" keine englische Folklore, sondern ein russisches Volkslied ist. Es kommen Led Zeppelin und Schostakowitsch und der Technoclub Berghain vor.

Vor allem aber Seelenstriptease. Manchmal fragt man sich, warum sie sich und uns diese schmerzvolle Innenschau antut.

Möglicherweise deshalb: Sie ringt dem tristen Sound der Unerträglichkeit der Gegenwart viele kluge Erkenntnisse ab: "Alles, was man tut, um geliebt zu werden, ist umsonst (...) Wenn ich geliebt werden will, stelle ich mich tot."

Iris Hanika – 2008 mit "Treffen sich zwei" auf der Buchpreis-Shortlist – schreibt, als würde sie einem Analytiker berichten.

Wie sie sich in einer jahrelangen On- und Offbeziehung ausbeuten lässt.

Lange braucht sie, bis sie draufkommt:

Kein Sex ist besser als schlechter Sex.

Iris Hanika sagt über ihr Buch: "Es ist ein wüstes Buch geworden. Gerade so eins, wie ich’s mir immer erträumte."

KURIER-Wertung: **** von *****

Yasar Kemal – "Salih der Träumer"

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Salih findet ein Möwenjunges mit aufgesperrtem Schnabel und gebrochenem Flügel. Die Rettung des einsamen Möwenkindes wird für den Jungen zur überlebenswichtigen Aufgabe, denn: "Alles auf Erden ist ein Mensch."

"Salih der Träumer" aus dem Jahr 1976 ist nun erstmals in deutscher Sprache erschienen. Ein Kindheitsroman zwischen Realität und Fantasie. In der wortgewaltigen, anthroposophischen Parabel wird das Verlassen der Kindheit zum verwirrenden Naturmärchen.

Yasar Kemal gehört zu den bedeutendsten türkischen Autoren der Gegenwart. 1923 in Anatolien geboren, wird er "Sänger und Chronist seines Landes" genannt. Berühmt wurde er durch seinen Roman "Memed mein Falke" von 1955, das in 30 Sprachen übersetzt wurde. Kemal wurde 1997 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

KURIER-Wertung: **** von *****

John Green – "Das Schicksal ist ein mieser Verräter"

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