Udo Jürgens: "Wer nicht lebt, hat keine Zukunft"
Von Birgit Braunrath
München am vergangenen Donnerstag. Wenn Oktoberfest ist, zeigt die ganze Stadt Flagge und trägt Bierfahne, dazu Lederhose und Dirndl. Nur einer nicht.
Udo Jürgens trägt weißes Hemd und schwarzes Samtsakko.
Im Hotel "Bayerischer Hof" begrüßt er den KURIER zum Interview, lächelt, als der Fotograf: "Herr Jürgens, bitte ein Lächeln!" ruft. Dabei stört ihn am Berühmtsein nichts mehr, als dass er stets ein Lächeln parat haben muss. Doch Disziplin ist seine Paradedisziplin.
"Hier wird gearbeitet!", verscheucht er freundlich die Kellnerin. Er antwortet ausführlich auf jede Frage. Am Nebentisch warten bereits zwei Mitarbeiter mit Arbeit: Ein Stoß Fankarten ist zu unterschreiben, eMail-Anfragen sind zu beantworten - dann geht's zur München-Premiere von "Der Mann mit dem Fagott", der Verfilmung jenes Buches, in dem er die Geschichte seiner Familie erzählt. Danach zur Premierenfeier, am Freitag weiter nach Düsseldorf. Da bleibt keine Zeit fürs Oktoberfest. Seine Lieder sind ohnehin dort. In jedem Zelt, in aller Munde.
KURIER: Herr Jürgens, die Geschichte Ihrer Familie ist am Donnerstag und Freitag im TV. Derzeit ziehen Sie mit dem Film von Stadt zu Stadt. Am Telefon sprachen Sie von einem "Triumphzug"...
Udo Jürgens: Ja, wir waren in Hamburg, Köln, jetzt München, dazwischen Velden. In Berlin lief der Film in drei Kinosälen, danach gab es minutenlang Standing Ovations. Es ist umwerfend.
Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?
Ich will noch nicht von Erfolg sprechen. Denn haben wir im Fernsehen eine miserable Quote, ist der ganze Erfolg im Eimer. Heute entscheidet die Quote, nicht die Qualität. Das wissen wir alle.
Hier in München ist Oktoberfest. Gehen Sie hin?
Nein. Ich gehe sonst gern hin, aber inzwischen ist es ein Horror geworden. Die Fotografen warten auf die sogenannten Prominenten, die sich aus Fußballerehefrauen und geschiedenen Ehefrauen von Schlagergrößen rekrutieren. Wenn ich komme, ist Bürgerkrieg. Alle Fotografen prügeln sich um eine Position vor mir, da kann ich keinen Schluck Bier genießen. Mein Sohn John hat mich gestern angerufen und gefragt, ob ich mit auf die Wies'n geh'. Ich hab' kurz überlegt, aber mir war klar: Jetzt mit dem Film und dem Geburtstag sind alle so aufgeregt, da mach' ich es nicht.
Auf dem Oktoberfest werden "Griechischer Wein" und "Aber bitte mit Sahne" rauf- und runtergesungen ...
... weil das Lieder sind, die ins Volksbewusstsein vorgedrungen sind, obwohl's keine Volkslieder sind. Das gibt es immer weniger. Rapmusik und solche Songs können keine Evergreens werden, da kann man nicht mitpfeifen.
Alle paar Monate bringen Castingshows neue sogenannte Superstars hervor ...
Das sind doch alles Hubschrauberkandidaten, die von null auf 100 gehen und genauso schnell von 100 auf null. Mit dem Hubschrauber auf den Gipfel eines Berges gehoben zu werden, heißt nicht, ihn erklommen zu haben. Für mich ist ein
Musikerleben ein Leben voller Hindernisse, über Steine stolpern, hinfallen, wieder aufstehen. Und das Publikum, das diesen Weg verfolgt, sieht, dass du leidest, dir Mühe gibst, dass du dich entwickelst.
Teile Ihres Musikerlebens, das genau so verlaufen ist, sieht man im TV-Zweiteiler "Der Mann mit dem Fagott" diese Woche im ORF. Sie betonen aber immer, dass nicht Sie der Mittelpunkt dieser Geschichte sind, sondern das 20. Jahrhundert.
Es ärgert mich, wenn manche glauben, es handle sich um meine Biografie und dann sagen: "Was interessiert mich der Großvater?" Ich wollte dieses wahnsinnige Jahrhundert zeigen, in dem meine Familie Unglaubliches erlebt hat. Mein Großvater ist schon während der Monarchie unschuldig in die Räder der Justiz geraten, ebenso mein Vater in der Nazi-Zeit, obwohl er Parteimitglied war. Ich weiß, was radikales Gedankengut in einem Land und in der Seele von Menschen anrichtet.
Ist der Film eine Warnung?
Die vielen jungen Wähler, die heute rechten Parteien anhängen, haben nicht zu der Zeit gelebt, als ich jung war, da war noch Krieg. Und ich habe deutliche Erinnerungen an die Zeit. Die Täter des Dritten Reichs waren nicht von Haus aus schlechte Menschen. Sie sind durch eine Struktur, in der man plötzlich handeln durfte, wie ein Mensch nie handeln darf, in Machtpositionen gerutscht. Die Versager hatten plötzlich Macht über Leben und Tod. Das hat eine große Faszination. Wir müssen achten, dass die Jugend, die solchen Gedanken anhängt, erkennt, dass das nicht die Zukunft ist. Der Weg in die Zukunft ist ein demokratischer.
Auch demokratisch gewählte Politiker geraten derzeit wegen heftiger Korruptionsvorwürfe ins Zwielicht. Überrascht Sie das?
Korruption und Politik ist ein Jahrhunderte altes Thema. Auch in Österreich. Spätestens seit den politischen Ereignissen der vergangenen 15, 20 Jahre in Kärnten weiß man das.
Sie leben in der Schweiz, sind aber leidenschaftlicher Kärntner geblieben. Wie haben Sie die Einigung im Ortstafelstreit aufgenommen?
Ich bin nicht ganz unbeteiligt, dass es jetzt endlich soweit ist. Ich habe die Leute unter Druck gesetzt, effektiv.
Was war Ihre Rolle?
Ich hab den Dörfler sehr oft angerufen und von ihm verlangt, dass das gemacht wird; dass nicht mehr die Parteipolitik im Vordergrund steht, sondern das Interesse des österreichischen Volkes und auch das der Slowenen.
Und wie hat Landeshauptmann Dörfler reagiert?
Er steht natürlich unter Parteigehorsam, dadurch ist es ihm schwer gefallen. Aber es ist doch lächerlich. Wir müssen endlich begreifen: Nur in einem weltoffenen Staat kann Kultur, kann Freiheit des Denkens entstehen.
Alice Schwarzer, Deutschlands bekannteste Feministin, hat eine Autobiografie geschrieben. Auch Sie kommen darin vor ...
Ja, sie ist eine alte Freundin von mir (er lächelt) .
Werden Sie zu Frauen befragt, dann geht es meist um Treue oder uneheliche Kinder. Wie stehen Sie zur Gleichstellung der Frau?
Na das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Unsere Gesellschaft ist dort, wo sie ist, weil sie von Männern und Frauen getragen wird und weil Frauen heute ganz andere Rechte haben als in den Fünfzigerjahren. Die Welt hat sich in der Zeit, seit ich denken und fühlen kann, unglaublich verändert.
Am Freitag ist Ihr 77. Geburtstag. Wo werden Sie sein?
Das weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich werde ich mit den Schauspielern des Films zusammen sein. Es ist unglaublich, was da für eine Freundschaft, ich würde fast sagen Liebe, entstanden ist.
Was kann ein 77-Jähriger den jungen Darstellern sagen ?
Auf jeden Fall rate ich jedem, er soll sich sein Leben bewusst machen und im Jetzt glücklich sein. Zukunft entsteht nur im Augenblick, und die Vergangenheit auch. Die Zeit, in der wir leben, ist hochgradig faszinierend. Da gibt's unendlich viel zu sehen, zu spüren, zu beobachten. Wer nicht jeden Tag, jede Sekunde bewusst lebt, der hat keine Zukunft.
In Köln waren Sie fast bis drei Uhr Früh auf der Premierenfeier, Sie stecken voll in der Arbeit, 2012 gehen Sie wieder auf Tournee. Sind Ihre Kräfte unerschöpflich?
Ich habe nichts eingebüßt von meiner Kraft - in der Stimme, aber auch in der Bühnenpräsenz. Es geht mir gesundheitlich gut, da kann man das doch machen. Im Januar fahren wir wieder los. Sollte ich eines Tages das Gefühl haben, ich dränge mich auf, werde ich das keine Minute länger machen. Aber dieses Gefühl hab' ich nicht.
Gibt es eine Frage, die ich nicht gestellt habe, die Sie aber gern beantworten möchten?
Sie haben nicht mit dem Thema angefangen, aber sollten Sie etwas zu meiner Tochter Gloria schreiben, dann bitte lieber mit meinem Dazutun. Unser Verhältnis ist etwas gestört.
Sie waren nicht am Opernball, bei dem Gloria heuer eröffnet hat, Ihre Tochter hat die Enttäuschung darüber kundgetan, und Sie haben daraufhin in einem Interview gesagt: "Ich lasse mich nicht über die Medien maßregeln." Ist das der Grund?
Ja, unter anderem. Sie wollte, dass ich zum Ball komme. Ich wollte nicht, weil mir das Theater dort zurzeit ein bisschen zu viel ist. Das habe ich ihr auch schon Monate davor gesagt. Und dann habe ich über die Medien Schelte bekommen, so, als hätte ich sie im Stich gelassen. Das hat mich verletzt.
Wünschen Sie sich wieder Kontakt mit Ihrer Tochter?
Ich hoffe, dass wir in absehbarer Zeit einen friedlichen Kontakt haben, so wie wir das schon hatten. Ich werde meine Fühler ausstrecken, und wenn sie Interesse hat, mit mir zu sprechen, in Kontakt zu sein oder zu mir zu kommen, freue ich mich sehr.
"Der Mann mit dem Fagott": Eine Geschichte über drei Generationen
Das Buch: Udo Jürgens schrieb die Familienbiografie "Der Mann mit dem Fagott" gemeinsam mit Co-Autorin Michaela Moritz. Die Arbeit an dem Buch sei ein Meilenstein in seinem Leben gewesen, sagt er, und sei vor allem als Dokument für seine Familie gedacht. Der Roman ist 2004 im Limes Verlag erschienen. Es gibt eine neue broschierte Auflage bei Limes sowie eine Taschenbuchausgabe von Blanvalet. Auf 736 Seiten erzählt das Buch wesentlich mehr als der Film.
Der Film: ORF 2 strahlt den Zweiteiler "Der Mann mit dem Fagott" am 29. und 30. September jeweils um 20.15 Uhr aus. Alexander Kalodikis spielt Udo Jürgens als Kind, David Rott den jungen Udo Jürgens, Christian Berkel Jürgens' Großvater Heinrich Bockelmann, und als Jürgens' Vater Rudi Bockelmann ist Ulrich Noethen zu sehen. Valerie Niehaus spielt seine Jugendliebe Gitta Köhler. Regie bei der ARD/ORF-Produktion führte Miguel Alexandre. Regina Ziegler und Klaus Graf produzierten die Familiensaga. Die Uraufführung fand Ende August in Hamburg statt. Udo Jürgens hat die Filmmusik geschrieben.
Die Handlung: Im Leben des Großvaters, des Vaters und der Onkel von Udo Jürgens kommen historische Figuren wie Lenin oder Kennedy leibhaftig vor. Viele der Geschichten, die seine Vorfahren erlebt haben, fanden aber in dem TV-Zweiteiler keinen Platz, sind aber im Buch erzählt. Udo Jürgens selbst wurde als Kind in der Hitlerjugend von einem Anführer so geschlagen, dass sein linkes Trommelfell riss. Bis heute hört er auf dem linken Ohr wenig bis gar nichts. Diese Szene ist im Film eindringlich dargestellt.
Der Titel: Ein russischer Fagottspieler weckte das Fernweh in Udos Großvater Heinrich, und so wanderte dieser Anfang des 20. Jahrhunderts nach Moskau aus. Die Bronzefigur "Der Mann mit dem Fagott" wurde für die Familie zum Symbol. Sie steht heute in Jürgens' Haus in der Schweiz. Für die Dreharbeiten wurden vier Figuren nachgebaut.